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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Halbheft 15.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.




Ketten.
Roman von Anton v. Perfall.


Die ganze Stadt triefte; all ihre bunten Farben flossen verdrießlich ineinander – – alles verwaschen, rieselnd, plätschernd, spritzend, und doch ein wirres Gedränge, Geschiebe und Gerassel: es war Weihnachtszeit! Selbst dieser eigensinnige, geistlos einförmige Regen, der schon oft den blutigen Zorn einer tobenden Volksmenge besänftigte, war nicht imstande, die Liebesgluth zu löschen, die jetzt in allen Herzen brannte.

Um die grellbeleuchteten Auslagefenster drängte es sich. Vornehme Damen scheuten sich nicht vor der Berührung mit dem Arbeitsmann; Kinderhände wischten emsig an dem feuchten trüben Beschlag der Scheiben, hinter denen die bunten Herrlichkeiten lagen. Ueber den Spiegel des Asphaltes, in welchem tausend Lichter spielten, glitten lautlos die Wagen; das metallene Aufschlagen der Pferdehufe ward übertönt vom Prasseln des Regens.

Das Spielwarengeschäft Tiffany überbot an Glanz, Buntheit und Mannigfaltigkeit der Ausstellung alles um sich her. Riesige Glasplatten, nur von zierlichen eisernen Trägern unterbrochen, reihten sich in drei Stockwerken aneinander; dahinter prangten in elektrischer Lichtfluth, wie von Feenhänden aufgehäuft, all die heiß ersehnten, mit glühenden Wangen erträumten Schätze der Kinderwelt: Puppen groß und klein, im tiefsten Negligé, in den kostbarsten Toiletten; vornehme Karossen und Lastfuhrwerke, Salon und Stall, Kasernen, Theater und Kirchen, Soldaten zu Fuß, zu Pferd, Schlachten, Jagden, Schäfereien, Gewehre, Bogen, Handwerksgeräthe, grell bemalte Schachteln und Guckkästen – ein Mikrokosmos des ganzen menschlichen Lebens mit seinem unruhigen Vielerlei, seiner Thorheit, seinem Wahn. In der Mitte einer jeden Auslage lockte eine mechanische Figur mit grotesken Bewegungen die schaulustige Menge.

Besonders gelang dies dem „lachenden und weinenden Bauernbuben“ auf der rechten Seite des Eingangs. Das war zu lustig, wenn er mit einem leisen Knix den Kopf sinken ließ, die Hände hob und damit das weinerliche Gesicht bedeckte, um es gleich darauf mit einem breiten Grinsen wieder zu erheben. Allgemeines Gelächter begleitete stets von neuem die vortrefflich nachgeahmte Bewegung.

Der „Hansl“, so hieß in der ganzen Stadt der drollige Kauz, trieb dem schlechten Wetter zum Trotz unermüdlich sein verschmitztes Spiel. Eben jetzt wurde er von einem Ladenmädchen weggeholt und einem Kauflustigen vorgeführt. Neugierig drängten sich die Köpfe, um den glücklichen Käufer zu erblicken, doch rasch erschien Hansl wieder in der Auslage, von hellem Jubel begrüßt, und lachte noch verschmitzter. Daß er so flink wieder an den alten Standort zurückkehrte, daran war wohl der Zettel schuld, der an seinem rechten Beine hing und auf dem in großen Zeichen „150 Mark“ zu lesen stand.

In diesem Augenblick glitt eine stolze Equipage vorbei, ein Mädchenkopf erschien am Wagenfenster, ein heller Ruf ertönte, der Kutscher verhielt rasch die Pferde und der Wagen stand. Der Bediente öffnete den Schlag. Ein kleines Mädchen sprang stürmisch heraus, eilte dem Schaufenster zu und drängte sich, ehe die nachfolgende, in kostbares Pelzwerk gehüllte Dame sie erhaschen konnte, durch die gaffende Menge vor den kleinen Hansl.

„Mama, Mama, komm’ doch!“ rief das Kind, vor Vergnügen in die Hände klatschend. Dabei schüttelte es ungeduldig die goldigen Locken, die unter einer rothen schottischen Wollmütze hervor über die Schultern fielen.

„Aber Claire, schäme Dich!“ erklang die Stimme der Dame, welche sich mit sichtlichem Unbehagen gezwungen sah, vorzudrängen, um den kleinen Flüchtling zu erreichen. Lachend machten ihr die Leute Platz, und

Von der internationalen Musik- und Theaterausstellung in Wien:
Damenkorso.
Nach einer Zeichnung von T. Rybkowski.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 453. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_453.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)