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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


Ketten.

Roman von Anton v. Perfall.
(1. Fortsetzung.)
3.

Jener Hieb mit dem Kindersäbel, den Hänschen am Weihnachtsabend gegen den Sohn des Hauses geführt hatte, änderte alle Bestimmungen, die für seine Zukunft getroffen waren; seine Zwillingsbruderschaft mit dem Hansl von Tiffany verleugnete sich nicht, er war wirklich ein Automat des Schicksals. Anstatt in der Familie aufgezogen und förmlich adoptiert zu werden, wie die Räthin anfangs beabsichtigt hatte, wurde er als schlichter Hans Davis zu dem ersten Prokuristen des Hauses Berry, dem kinderlosen Herrn Isidor Merk, in Pension gegeben.

Dieser fühlte sich durch das Vertrauen seines Herrn hochgeehrt, während seine Gattin Tini in der Sache nur eine vortreffliche neue Einnahmequelle erblickte. Der Kommerzienrath wünschte ausdrücklich, daß dem Jungen in keiner Weise etwas abgehe, und zahlte auch dementsprechend, aber Frau Tini hatte über das „nichts abgehen“ ihre eigenen Gedanken. Was sollte denn einem Arbeiterkind, dessen Mutter sich, um dem größten Elend zu entgehen, ins Wasser gestürzt hatte, in aller Welt abgehen, wenn es nicht hungern und frieren mußte? Sie hätte sich ein Gewissen daraus gemacht, seine den früheren ärmlichen Verhältnissen entstammende Genügsamkeit durch zu großen Aufwand zu verderben, die sollte ja zum Eckstein seines künftigen Glückes werden.

Nach diesen Grundsätzen der Frau Tini wurde Hänschen erzogen. Sie hatte ganz richtig gerechnet – seine gesunde kräftige Natur, die ihn schon damals vor dem Tode in dem eisigen Strome bewahrt hatte, half ihm über alle Härten und Entbehrungen hinweg. Er wuchs trotz schmaler Kost und reichlicher Arbeit zu einem blühenden kräftigen Hans heran. Und er fühlte sich nicht einmal unglücklich, denn dazu fehlte ihm jeder Vergleichungs punkt. Ständig erinnerten ihn seine Pflegeeltern an seine Herkunft und stellten ihm seine Existenz dar als eine fortgesetzte Wohlthat, wofür er in erster Linie dem Herrn Kommerzienrath und dann Frau Tini Dank schuldig sei. Es fiel ihm daher auch gar nicht ein, bei dem Herrn Kommerzienrath irgend welche Klage zu führen, wenn er Sonntags, in festtägliche Kleider gesteckt, in das Herrenhaus zu Fräulein Claire durfte, die ihr Anrecht auf ihn sich nicht ganz rauben ließ.

Nach der dunklen, freud- und lieblosen Woche bei Merks, welche im Beamtenhaus, inmitten von Staub und Lärm der Fabrik, ein paar Zimmer bewohnten, war dieser Sonntag bei Berrys in Claires Gesellschaft für ihn ein Sonnenstrahl, der alle düsteren, in seiner Kinderseele angesammelten Wolken verscheuchte.

Wiederholt hatte er aus dem Munde der Freundin die Geschichte jener fürchterlicher Nacht vernommen, die seinem eigenen Gedächtniß nie ganz entschwunden war; auch an spöttischen Bemerkungen darüber von seiten Tinis und der Arbeiterkinder auf dem Fabrikhof fehlte es nicht. Er wußte selbst nicht, ob auf Grund persönlicher Erinnerung oder oft wiederholter Erzählung – er glaubte, sich an den letzten Kuß, den entsetzlichen Sprung, an das bleiche entstellte Antlitz seiner Mutter erinnnern zu können.

„Mama, schenke mir den kleinen Jungen zum Christkind, ich will den Hansl bei Tiffany gar nicht mehr.“ Oft wenn beim Herumsuchen unter den Spielsachen der längst invalid gewordene Automat zum Vorschein kam, wiederholte ihm Claire lachend diese Worte, die sie an jenem schrecklichen Abend gesprochen hatte. Sie prägten sich seinem Gedächtniß unauslöschlich ein; aber nie stieg auch nur einen Augenblick ein Gefühl der Bitterkeit darüber in ihm auf. Auch daß sich Claire ein Bestimmungsrecht über ihn anmaßte und trotz aller innigen Freundschaft immer wieder den Ton der Herrin durchklingen ließ, nahm er nicht übel; im Gegentheil, er freute sich dessen – er freute sich, daß alles so gekommen war; so brauchte er niemand zu danken als ihr, die er abgöttisch liebte, die mit ihren blauen Augen, ihrem schimmernden Goldhaar ihn anzog wie niemand sonst. Doktor Schindling, sein Beschützer, war im ersten Jahre seiner Anwesenheit gestorben, und alle anderen kümmerten ihn nicht – der starre, ihm nie zulächelnde Kommerzienrath, dem er bei jedem Besuch in mechanischer Gewöhnung die Hand küßte; der hochmüthige boshafte Otto, von dem er sich Claire zuliebe geduldig quälen ließ; der verhaßte, seinem Chef gegenüber kriecherische, gegen ihn selbst harte Prokurist und dessen geizige lieblose Frau, denen er doch unbedingt folgte, in der wachsenden Furcht, auch diesen Platz zu verlieren, ganz, für immer getrennt zu werden von Claire. Herr Berry kümmerte sich wenig um die Erziehung des Knaben; erst als er zufällig von dessen ausgezeichneten Fähigkeiten hörte, regte sich in ihm wenigstens der Kaufmann, und er entschloß sich, das auf den Jungen verwendete Kapital nutzbringend zu machen. Hans Davis konnte eine für ihn höchst werthvolle Arbeitskraft werden, auf die er ein festes Anrecht hatte.

Der Knabe hatte das vierzehnte Jahr erreicht, es war also höchste Zeit, für seinen Entwicklungsgang zu sorgen. Berry schickte ihn auf die Gewerbeschule, um ihn zum Maschinentechniker ausbilden zu lassen; in der freien Zeit wurde er einem erfahrenen Werkmeister der Fabrik zum praktischen Unterricht zugetheilt.

Damit begann für Hans ein neues Leben; ein Arbeitsfeld lag vor ihm, in dessen schmutziger qualmender Atmosphäre er aufgewachsen war, ohne seinen Reiz zu kennen. Er beschritt es mit freudigem Drange, mit den besten Vorsätzen. Diese riesigen Hallen mit den sprühenden leuchtenden Feuern, den geheimnißvollen Maschinen, die er stets mit stummer Ehrfurcht betrachtete – das war ein anderer Aufenthalt als die paar Stuben bei Frau Tini, und hier gab es andere Arbeit als Aufwaschen, Holztragen und all die unzähligen niedrigen Dienstleistungen im Hause des Prokuristen! Und was man in der Gewerbeschule lernen konnte! Der Kopf brannte ihm vor Eifer, die dunkle Ahnung stieg in ihm auf, daß dies der Weg sei, auf dem die höhnischen Bemerkungen über seine dunkle Herkunft, über seine verschenkte Existenz zum Schweigen gebracht werden konnten. Denn mit den Jahren und dem wachsenden Verständniß hatte die Gleichgültigkeit gegen derartige Anspielungen aufgehört und einer jäh ausbrechenden, ihn oft zu Thätlichkeiten hinreißenden Erregung Platz gemacht. Selbst Claire gegenüber schwand unter den neuen Verhältnissen seine bisherige Duldsamkeit in diesem Punkte. Das Hammerschwingen stählte seine Muskeln, weitete seine Brust, gab seinem Gesicht einen kraftvollen, fast trotzigen Ausdruck. Der Blick in die Zukunft, der Drang, den Fleck abzuwaschen, der an ihm haftete, stählte seinen Sinn. Er verehrte Claire auch jetzt noch wie ein hoch über ihm stehendes Wesen, aber er fühlte sich schon ihr gegenüber. Neckereien, die er sonst willig hinnahm, schmerzten ihn jetzt; an die Stelle kindlicher grenzenloser Verehrung trat eine liebevolle Nachgiebigkeit; wenn es noth that, ein ebenso fester als geschickter Widerstand.

Diese Veränderung erfolgte so allmählich, so gleichmäßig mit der, welche in Claire selbst vor sich ging, daß beide sie erst gewahr wurden, als sie sich schon vollzogen hatte. Und nun machte jene ungebundene ahnungslose Freiheit im Benehmen Claires, bei der Geschlecht und gegenseitige Stellung gar nicht in Frage gekommen war, einer gewissen ängstlichen Scheu Platz. Mit Schmerz sah sie ihr geliebtes Spielzeug, ihr Eigenthum, auf das sie stolz war, ihren Händen entwachsen; sie wagte kaum noch eine Anspielung darauf, und wenn sie es wagte, gereizt durch sein Auftreten, so fürchtete sie sein sonderbar überlegenes Lächeln; dann schien ihr plötzlich das Spiel umgedreht – sie in seinen Händen.

Beide fühlten, früher als die achtlosen Eltern, daß dieses Verhältniß keine Dauer mehr haben könne. Der Kommerzienrath und seine Frau, mit anderen Dingen vollauf beschäftigt, erblickten in Hans Davis immer noch den armen Findling, der nichts zu bezeigen hatte als Dankbarkeit und Unterwürfigkeit – die Neigung Claires war ihnen eine kindische Laune; das Mädchen griff ja auch noch hie und da zu seinen Puppen, es hatte also keine Noth.

Claire war jetzt siebzehn Jahre alt und versprach eine Schönheit zu werden, wenn ihre in voller Entwicklung begriffene Gestalt zu harmonischer Fülle gelangt sein würde. Von ihrem Vater wurde sie eifersüchtig in der ländlichen Einsamkeit der Villa gehalten. Junge Männer verkehrten dort wenig, die Geschäftsfreunde Berrys waren zu alt, Ottos Kameraden zu jung, um Gefühle in ihr wachzurufen, welche in diesem Alter sich in jeder weiblichen Brust zu regen beginnen; so gehörte alles, was ihr kindliches Herz an Zuneigung für Dritte übrig hatte, dem Jugendfreund, so sehr sie auch von ihrem Bruder deshalb verlacht wurde.

Dieser betrachtete Hans mit der lächerlichen Geringschätzung jeder praktischen Thätigkeit, wie sie nur immer ein auf den Bänken der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_486.jpg&oldid=- (Version vom 8.4.2024)