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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Halbheft 20.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



 Originalzeichnung von R. Püttner.

Am Abend.

Die Nebel steigen
Im Dämmerschein,
Die Vögel schweigen
Und nicken ein.

Die Quellen gehen
Wie halb im Traum –
Ein zärtlich Wehen
Neigt Baum zu Baum.

Die Blumen schwanken
Und grüßen sich –
Und die Gedanken,
Sie suchen dich.

Weit in der Ferne,
Im Dämmerschein,
Beim Glanz der Sterne,
Mein Lieb, schlaf ein!
 A. Nicolai.




Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.

Das Fest war just vorüber. Einer der stillen finsteren Tage zwischen Weihnacht und Neujahr neigte sich seinem Ende zu; es schneite in feinen Flocken, war bitterkalt, und ein scharfer Ostwind hielt die Leute in den Stuben. Nur der alte Briefträger schritt mit seinen großen Lederstiefeln auf dem schmalen Bürgersteig dahin; hier und dort trat er in ein Haus, Botschaft bringend aus der Ferne, gute und schlechte, Glück und Unglück übermittelnd, ohne eine Miene zu verziehen im Gefühl seiner Unverantwortlichkeit.

„Da soll man heut abend noch da ’naus laufen,“ murmelte er, unter einer Laterne stehenbleibend und einen eingeschriebenen Brief betrachtend, der die Aufschrift trug:

 „Fräulein Friederike Trautmann
 Andersheim a. Rhein
 Germania.“

Der alte Mann schüttelte den Kopf und bog mit verdrießlichem Aufseufzen in eine Gasse ein, die dunkler und einsamer dalag als die anderen. Er beschleunigte den Schritt und fand sein Ziel mit Hilfe des vorschriftsmäßigen Laternchens nach ungefähr zehn Minuten, Er klingelte an der Thür einer Gartenmauer, worauf sich Hundegebell hören ließ, gleich danach rasselte eine Thürschelle, und ein schwacher Lichtschein machte die Umrisse eines ansehnlichen Hauses sichtbar.

„He!“ rief der Mann draußen, „der Briefträger ist es! Kann ich das Fräulein sprechen?“

Die Thür in der Mauer ward aufgethan, und ein braunlockiger Junge von ungefähr zwölf Jahren sah mit neugierigen, höchst verwunderten Augen bald den Brief bald den Ueberbringer an. „Für die Tante?“ fragte er athemlos.

„Für Fräulein Trautmann!“

„Mutter,“ schrie er, über einen schmalen gepflasterten Weg ins Haus laufend, „die Tante kriegt einen Brief!“

Die Thür mit dem kleinen Guckfenster rechter Hand in dem großen, kaum erhellten Hausflur öffnete sich, und eine Frau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 613. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_613.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)