Seite:Die Gartenlaube (1892) 688.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Ein Gruß an die Deutschen in Nordamerika.

Zur deutschen Gedenkfeier in Louisville am 21. October 1892.[1]

Schon zwei Jahrhundert’ floß die Fluth
Des Völkerstroms gen Westen,
Eh’ sich in ihn germanisch Blut
Ergoß in tausend Aesten. –
Verrauscht aufs neu zweihundert Jahr’,
Seitdem in Schmerzenstagen
Mußt’ um die erste Flüchtlingsschar
Die deutsche Heimath klagen.

Heut’ klagt sie nimmer, schaut mit Fug
Stolz auf die tapfern Sprossen,
Die furchtlos einst mit Axt und Pflug
Den Urwald sich erschlossen,
Die mühsam durch der Steppe Grund
Den Weg gewußt zu bahnen – –
Die Söhne will durch Sängers Mund
Die alte Heimath mahnen.

Verrostet lang hing Deutschlands Wehr –
Das Reich zerstückt, zerschlagen!
Von deutscher Freiheit, Macht und Ehr’
Ging’s nur noch um in Sagen.
Getrennt durchs Weltmeer, saht ihr kaum
Noch Deutschlands Sterne scheinen –
Nur manchmal hörtet ihr im Traum
Die alte Heimath weinen.

Da kam der Tag, wo erz’ner Klang
Aufrüttelte die Stämme;
Da brach des Volkes Einheitsdrang
Wie Sturmfluth alle Dämme;
Da reckt’ des Reiches Riesenbau
Sich auf mit Thurm und Zinken –
Hoch saht ihr über Meeresblau
Die alte Heimath winken!

Ihr Brüder in der neuen Welt,
Seid eins auch ihr im Ringen!
Wenn Deutsch mit Deutsch zusammenhält,
Wer wollt’ es da bezwingen?
Dem Staat, den ihr euch wähltet, treu
Doch treu auch ohne Wanken
Euch selbst – dann wird euch immer neu
Die alte Heimath danken!

Habt drüben auch in freiem Land
Ihr neues Heim erstritten –
Wahrt deutsch das Herz und deutsch die Hand,
Bleibt deutsch in Sein und Sitten!
Sterbt ihr dereinst in solchem Bund –
Mit Mutterlaut, dem süßen,
Wird segnend noch in letzter Stund’
Die alte Heimath grüßen!
  Ernst Scherenberg.


Der Schreibkrampf.

Wie der Mensch den Verstand als das Vermögen aller Vermögen vor allen Thieren erhalten hat, so ist ihm auch die Hand als das Werkzeug aller Werkzeuge verliehen worden. Sieh einmal hin auf alle die Körper, die ein Mensch zu ergreifen vermag, vom größten, wozu er beide Hände braucht, bis zum kleinsten, einem Hirsekorn, einem feinen Dorne oder einem Haare, und sieh die Hand jeden dieser Körper für sich fassen, jedesmal wirst Du finden, daß die Hand so genau zum Gegenstand paßt, als ob sie gebaut wäre, nur ihn zu fassen.“ Mit diesen Worten rühmt der altrömische Arzt Claudius Galenus die menschliche Hand, welche neuere Forscher sogar höher als ein Werkzeug stellen und einem Sinnesorgan gleich erachten. Und wie groß ist in der That die Kunstfertigkeit der Hand! Wie rasch können sich ihre Finger bewegen! Ein geübter Klavierspieler kann die Hand sechsmal in der Sekunde beugen und strecken und ein Violinspieler den Mittelfinger zehnmal in der Sekunde bewegen, und jede dieser feinen Bewegungen ist genau einem bestimmten Zwecke angepaßt! Wie rasch fliegt die Hand eines geübten Schreibers über das Papier! Wie viel feine, genau abgegrenzte Bewegungen müssen nicht die einzelnen Muskeln der Finger, der Hand und des Vorderarms ausführen, um die Buchstaben eines Wortes hervorzuzaubern! Ist es ein Wunder, daß die Hand bei dieser Arbeit ermüdet, daß sie unter Umständen die Anstrengung auf die Dauer nicht ertragen kann und schließlich den Dienst versagt? Wer hat nicht von einem gefürchteten Leiden der Hand, von dem Schreibkrampf, gehört?

Oft stellt sich dieses Uebel ganz unmerklich ein, es wird durch die Ermüdung eines oder mehrerer Finger oder auch der ganzen Hand, durch ein leichtes Stechen, Zucken, manchmal auch durch zeitweiliges Zittern angekündigt, wobei man Unsicherheit beim Schreiben und Lahmheit im ganzen Arme verspürt. Oft aber bricht es auch ohne Vorboten über den fleißigen Arbeiter herein.

„Man schreibt, scheinbar noch ganz gesund und seiner Federführung sicher,“ berichtet Julius Wolff, der ausgezeichnete Kenner des Schreibkrampfes, „da plötzlich macht sich ein heftiges Zucken in einem Schreibfinger oder ein Ziehen durch die ganze Hand fühlbar, stechend und krampfartig, die Feder entfällt der Hand, sie wird weggeschleudert, es schmerzt im Unter- oder Oberarm bis zur Schultergegend, die Hand dreht sich bald rechts, bald links, es hebt sich der Unterarm, die Finger versagen den Dienst, sie gehorchen dem Willen nicht mehr; bald beugen, bald strecken sie sich krampfhaft, und kein noch so scharfer Befehl, den das Gehirn durch die Nerven ihnen zukommen läßt, findet Beachtung. Wie heftig dies auf den seelischen Zustand des Kranken einwirkt, läßt sich nicht in Worte kleiden.“

Dieser peinlichen Erkrankung sind aber nicht allein Leute ausgesetzt, die viel schreiben. Der Krampf bedroht alle, welche durch Handfertigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen. Nähen und Stricken, Klavier- und Violinspielen, Telegraphieren, Malen und Zeichnen, ja selbst Melken kann plötzlich durch den Eintritt des Krampfes unmöglich gemacht werden. Alle diese verschiedenen Erkrankungen der Funktionen der Hand, die „Handneurosen“, beruhen mit dem Schreibkrampf auf einer und derselben Ursache.

Wohl ist der Schreibkrampf keine gefährliche Krankheit im ärztlichen Sinne des Wortes, er bedroht nicht das Leben; aber er ist eine schwere in sozialer Hinsicht, denn er macht vielfach dem Menschen die Ausübung seines bisherigen Berufes unmöglich, er macht ihn arbeitsunfähig. Manche versuchen wohl, da ihre Rechte erlahmt ist, mit der Linken zu arbeiten, aber der Schreibkrampf ist tückisch; nach kurzer Zeit stellt er sich auch in der linken Hand ein.

Und was die Krankheit bis vor wenigen Jahren noch schwerer erscheinen ließ, war die Thatsache, daß die Wissenschaft ihr machtlos gegenüber stand. Eine große Zahl von Heilmitteln wurde gegen sie versucht: Wechsel des Federhalters in Bezug auf Schwere und Umfang, Einnehmen von Arzneien wie Belladonna oder Arsen, Schreiben mit Gänsefedern, Waschen der Hand mit verschiedenen Wassern, Sehnenschnitt, Elektricität, hohe Bergluft, See-, Moor- und andere Bäder, Kaltwasserkur, Armbänder u. a. mehr. Man beobachtete dabei wohl hier und dort eine vorübergehende Besserung, wirkliche Heilungen nur in Ausnahmen.

Ein Fortschritt war es, als man verschiedene Arten des Schreibkrampfes zu unterscheiden anfing. Man erkannte, daß derselbe durch organische Störungen in den Centralorganen, im Gehirn und Rückenmark, verursacht werden kann, und fand, daß gegen diese Art des Leidens eine allgemeine stärkende Behandlung, durch Elektricität u. dgl., sich heilsam zu erweisen vermag. Man gelangte aber auch zu der Ueberzeugung, daß weitaus die meisten Fälle auf Uebermüdung und Ueberreizung der Muskeln der Hand und des Armes zurückgehen. Zu Anfang der siebziger Jahre, als die Massage und die Heilgymnastik mehr und mehr in Aufnahme kamen, da tauchte in ärztlichen Kreisen die Vermuthung auf, daß diese Kuren sich auch zur Heilung dieser zweiten Art des Schreibkrampfes geeignet erweisen dürften.

Um diese Zeit wirkte Julius Wolff als Schreiblehrer in

  1. Die Deutschen Kentuckys begehen an diesem Tage in Anknüpfung an die vierhundertjährige Jubelfeier der Entdeckung Amerikas das Andenken an das Eintreffen der ersten deutschen Auswanderer in den Vereinigten Staaten vor zweihundert Jahren.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_688.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)