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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

[Selig sind die Barmherzigen.]

Für Hamburg.[1]

Sie kam auf schwarzem Todesflügel,
Die Würgerin, im Schreckenslauf,
Sie kam und häufte Leichenhügel
Erbarmungslos und grausig auf.
Ein Schrei der Noth durchhallt die Lüfte
Dem fürchterlichen Sensenmann,
Und immer neue, neue Grüfte
Reih’n sich den kaum gefüllten an.

Da gilt’s, zu helfen und zu retten,
Die Perle Deutschlands ist bedroht,
Sie seufzt in der Vernichtung Ketten
Und jeder Seufzer ist ein Tod.
Vieltausendfach die Thränen fließen –
Die ganze Stadt im Trauerkleid!
Wer möchte kalt sein Herz verschließen
Vor solchem grenzenlosen Leid?

Ihr alle, die ihr frei von Sorgen,
Die ihr gesegnet und beglückt,
Wenn ihr an jedem frohen Morgen
Ans Herz die theuren Kinder drückt:
Gedenkt der Kleinen, die da darben,
Die elternlos, verlassen sind,
Gebt Korn aus euren vollen Garben,
Bannt das Gespenst: ein hungernd Kind!

Ihr wißt ja, was der große Meister,
Der stets sein Brot den Armen brach,
Als Himmelslohn im Reich der Geister
Den Seinen zur Verheißung sprach:
Wer sich die Krone will verdienen –
Die Nächstenliebe zeigt die Bahn;
Was ihr dem letzten unter ihnen
Gethan, das habt ihr mir gethan!

Auch du, dem nur ein stillbescheiden,
Geringes Maß von Erdenglück,
Du fühlst bei manchem eignen Leiden
Die fremde Noth – bleib’ nicht zurück!
Wer niedrig war, der wird erhoben,
Wo die Vergeltung Palmen flicht,
Der Witwe Heller wird dort oben
Am Thron des Herrn zum Goldgewicht!

Und nur kein Wort aus kaltem Munde,
Was hier versäumt und dort gefehlt –
Wir hören nur die Schreckenskunde,
Daß Hamburg sich zu Tode quält.
Wir sehen nur im deutschen Volke
Das festgeeinte Vaterland
Und reichen durch die Wetterwolke
Den Brüdern unsre Rettungshand!

O könnt’ ich doch vor allen Thüren,
Ein Trauerbarde, florumhüllt,
Mit meinem Lied die Herzen rühren,
Bis sie von Mitleid ganz erfüllt –
Dann brächte jeder seine Gabe,
Dann tönte hell ins Land hinein
Das Wort aus einem theuren Grabe:
Das ganze Deutschland soll es sein.

 Adolf Ebeling.

  1. Wir bitten um Verbreitung dieses Gedichtes mit dem Hinweis auf unsere Sammlung.  Die Redaktion.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 725. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_725.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)