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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Nach Jahren.
Eine Weihnachtsgeschichte von Julie Ludwig.
Mit Zeichnungen von W. Claudius.

„Herr Rechtsanwalt Stetten ist im Salon?“

Die Frage war an das durch und durch verblüffte Dienstmädchen gerichtet. Es hatte eben den Bescheid gegeben, daß der Herr Rechtsanwalt am Heiligen Abend nicht zu sprechen sei, und sah nun staunend mit den runden Augen auf den Fremden, der, statt sich mit landesüblicher Höflichkeit wieder zu empfehlen, zwei, drei Schritte – und was für Schritte! – längs des frischgescheuerten, nach gehackten Tannenreisern duftenden Flurs vorwärts that. Er mußte, zurückblickend, seine Frage wiederholen, ehe ein langgedehntes „Ja“ als Antwort kam, dem jedoch sehr rasch ein „Aber“ folgte.

„Ja … aber niemand darf hinein?“ vollendete er lachend, und das schüchterne Landkind athmete wie erleichtert auf; das Lachen rückte ihr den seltsamen Besucher menschlich näher.

„Die Herrschaft ist nämlich gerade beim Aufbauen der Bescherung.“

Er nickte stumm.

Familienabend also – lästig! Doch Gott mochte wissen, wann er wieder durch das Städtchen kam, und der Franz, der unzertrennliche Kamerad von früher – er war ein so guter Kerl! Warum nicht seine Frau und Kinder und die ganze Familienherrlichkeit in Kauf nehmen!

„Wohl, ich warte,“ sagte er entschlossen. „Stören Sie den Herrn nicht! Wenn er herauskommt, geben Sie ihm hier die Karte!“

Mit diesen Worten wandte er sich nach der Thür, die in das Arbeits- und Empfangszimmer des Hausherrn führte, öffnete sie und trat hinein mit einer Sicherheit, als ob er täglich und stündlich hier verkehre. Das Mädchen sah noch, wie er ungeniert Pelz und Reisemütze ablegte und sich in den alten mächtigen Großvaterstuhl am Fenster warf, dann schloß sie kopfschüttelnd die Thür hinter ihm und begab sich in ihr eigenes Reich, die Küche. –

Etwas Kurzgefaßtes, Strammes und doch wieder lässig Vornehmes lag in der Art, wie der Fremde, jetzt halb im Sessel aufgerichtet, den Kopf zurückwarf und den Blick erst längs der Bücherwände, dann durch das Fenster ins Freie gleiten ließ. Aehnliche Gegensätze, zu einer trotzdem einheitlichen Eigenart vereinigt, zeigte das Gesicht, dem man es ansah, daß sich seine Linien erst unter manchem Sturme gefestigt hatten. Auch die Augen hatten es offenbar erst lernen müssen, scharf und konzentriert zu blicken – aber sie hatten es gelernt. Nur manchmal brach ein Schimmer wie aus einer halbvergessenen Traumwelt unter den Lidern vor und verwandelte den ganzen Mann. Freilich kaum auf flüchtige Minuten. Ein leichter Strich der sehnigen gebräunten Hände durch das kurzgeschnittene Blondhaar, ein spöttisches Aufzucken um die Lippen, und die „sentimentale Anwandlung“ war verscheucht – bis ein unbeaufsichtigter Gedankengang sie wieder neu hervorrief.

Draußen fiel der Schnee in weichen Flocken. „Deutsche Weihnacht!“ murmelte er, und wieder wollte sich das böse Lächeln zeigen, aber es erstarb auf halbem Wege. Der Tanz der kleinen, weißen Sterne vor dem Fenster, ihr feierlich lautloses Durcheinanderschweben, die milde Wärme des Zimmers in Verbindung mit der geordneten anheimelnden Umgebung – das alles wirkte seltsam willenlähmend auf die reisemüden Sinne. Die Füße streckten sich, der Kopf sank in die aufgestützte Hand und die Phantasie wob ungehindert ihre bunten Bilder auf dem weißen Grunde einer deutschen Weihnacht.

Ja, er hatte manchmal schon das Fest begangen seit der Zeit, da ihm der letzte thüringer Christbaum mit seinen rothen Aepfeln und goldenen Nüssen, mit den langen Ketten funkelnder Glaskugeln und den schimmernden Lichtchen in das heiße Abschiedsweh hineingeleuchtet hatte! Das neue Jahr sah ihn im Sturm auf hoher See; die Lichter hatten sich in zahllose durcheinanderzuckende Blitze verwandelt, der Donner brüllte und die Flüche der schwer arbeitenden Matrosen hallten statt des frommen Weihnachtsliedes, das ihn damals – aus geliebtem Mund – so tief erschüttert hatte.

„Stille Nacht, heilige Nacht!“ – er hat die Weise lange nicht vergessen. Auf dem Marsche, unter den Gluthen der afrikanischen Sonne, von den vergifteten Pfeilen der Eingeborenen umschwirrt, hat sein verwirrtes Hirn sie festgehalten, haben die ausgetrockneten Lippen sie gesummt, unablässig, bis ein Geräusch wie das Brausen eines nahen Kataraktes sie in sich hineinschlang und schwarze Finsterniß den Geist umfing. Wäre er doch in jener Weihnachtsnacht gestorben, als er den tropisch blitzenden Sternenhimmel im Fieberwahn für jenen letzten heimathlichen Christbaum ansah! Das Kreuz des Südens hätte über seinem einsamen Grab geleuchtet, und die Kunde seines Todes – „ein neues Opfer deutscher Pflichttreue im Dunklen Erdtheil“ würde es geheißen haben – hätte vielleicht im fernen Vaterland – ein deutsches Mädchenherz –

Ah bah! Das lohnte sich, darum zu sterben! Süß ist das Leben … Eine andere Weihnacht unter Palmen! Die Luft ist voll von Duft, von Sang und Klang. Gluthäugige schmiegsame Gestalten schweben vor ihm dahin, leuchtenden Blumenschmuck um Haupt und Brust, ein Diadem von funkelnden Leuchtkäfern in den schwarzen Haaren. Das lacht und winkt, neigt und wendet sich – anmuthig, lockend schlingen sie den Reigen. Alles ist Lust, ist Süßigkeit, Feuer – sinnverwirrend, und –

„Langweilig! Unerträglich – dieses Warten!“ rief der junge Mann, indem er in die Höhe sprang, sich dehnend und streckend. Hatte er geschlafen? Da saß er hier, verträumt, vergessen. Warum nur? Um den bedächtigen Freund – ja wohl, er hatte früh schon Anlage zum Philister, dieser gute Franz – in seinen kindisch-wichtigen Geschäften nicht zu stören? Lächerlich! Er zog die Uhr, verglich sie mit der Wanduhr. Wenn er heute noch weiter wollte –

Ah! da kam man – „Franz!“

Vorspringend, mit der Rechten schon am Thürschloß, rief er es, trat dann aber unwillkürlich wieder einen Schritt zurück. Er fühlte, wie ihm plötzlich alles Blut zum Herzen drang. Seltsam! War er denn wirklich noch einer solchen Erregung fähig beim Wiedersehen eines alten Freundes?

Aber – das waren ja gar keine Mannestritte, das war das hastige ungleichartige Getrippel jugendlicher Füßchen, das sich draußen auf dem Vorplatz hörbar machte. Man klopfte Schnee ab, Schlittschuhe klirrten, Stimmen und Stimmchen sprachen durcheinander. Es mußten die Kinder sein, die nach Hause kamen; deshalb also war es bis jetzt bei „Rechtsanwalts“ so still gewesen!

Unmuthig warf er sich von neuem in den Sessel. Er hatte keine Lust, den Kindern zuerst zu begegnen. Was ließ sich mit solch unfertigen Geschöpfchen, solch kleinen anspruchsvollen Zukunftsmenschen reden? Hoffentlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 806. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_806.jpg&oldid=- (Version vom 25.1.2023)