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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

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Tragödien und Komödien des Aberglaubens.

Erbschlüssel und Erbsieb.

Verlorene Sachen wiederzufinden, den Urheber eines Diebstahls zu entdecken, giebt es auf dem platten Lande ein erprobtes Mittel: es ist der Erbschlüssel. Ein alter Hausschlüssel, ein ehrwürdiges, von den Vätern ererbtes Inventarstück, wird in ein ebenso altes Gesangbuch oder in eine Familienbibel gesteckt, so daß der Bart oben daraus hervorragt, das Ganze wie ein Postpaket umschnürt und von zwei Personen unter dem Packreitel, dem Stäbchen zum Anziehen der Schnüre, mit dem Mittelfinger der rechten Hand in der Schwebe gehalten; hierauf werden die des Diebstahls Verdächtigen laut genannt und der Reihe nach durchgenommen, bis der Reitel bei Nennung eines bestimmten Namens den beiden Untersuchungsrichtern plötzlich entgleitet und die Postille auf den Boden fällt. Freilich sind die Gelehrten, die mit dem Erbschlüssel umzugehen wissen, meistens die Diebe selbst, die den Verdacht von sich ab auf andere zu lenken suchen.

So lebte z. B. in Gößnitz im Altenburgischen die alte „Schmatzveiten“, die sich diesen Spitznamen einst vor vielen Jahren bei ihrer Trauung erwarb; der Pastor sagte nämlich: „Und nun wechselt den Mahlschatz“ – womit er die Ringe meinte; sie aber verstand: „den Maulschmatz“ fiel ihrem Bräutigam um den Hals und gab ihm am Altar einen „Schmatz“. Besagter Mahlschatz, ihr Trauring, war aber der armen hochbetagten Frau eines Tages abhanden gekommen, wahrscheinlich entwendet worden, und sie bot alles auf, um ihn wiederzuerlangen. Nun befanden sich in Gößnitz zwei geriebene Gauner, der „Eisbeinaugust“ und der „Schlamassenmax“, die machten sich anheischig, der Sache vermittelst des Erbschlüssels auf den Grund zu kommen. Große Versammlung aller Hausbewohner: der Erbschlüssel liegt bereit, es ist derselbe, durch dessen Ohr die Schmatzveiten in der Sylvesternacht Blei zu gießen pflegt. Er wird in die große alte Hausbibel gelegt, wo vorn auf vier Blättern die Familienchronik steht, das Buch feierlich und stillschweigend mit einem Bindfaden umwickelt, die Schnur mit einem Reitel fest zusammengezogen, daran halten der Eisbeinaugust und der Schlamassenmax mit den Fingern das Paket, daß es gerade herunterhängt. Nun sagt Eisbeinaugust: „Der Hans hat den Ring gestohlen“; Schlamassenmax dagegen: „Der hat es nicht gethan“. So machen sie die Probe beim Peter, beim Otto, beim Hirtenfriede, bei der Schneideremile, bei Charlotte Schmuddlich, genannt „Ohrring-Lotte“ – der Erbschlüssel regt sich nicht. Jetzt aber heißt es: „Die Schüttelbahrdten hat den Ring gestohlen“ – auf einmal kommt Leben in die Postille, sie bewegt sich, schwebt, der Eisbeinaugust und der Schlamassenmax können nicht mehr halten, und bardauz! liegt sie mitsamt dem klirrenden Erbschlüssel auf der Diele. Ei, Du alte heimtückische Schüttelbahrdten, die immer mit dem Kopfe schüttelt, wer hätte das von Dir gedacht! Denn nun ist es ja heraus, alles Schütteln hilft ihr nun nichts mehr, der Erbschlüssel lügt nicht! Leider übte die Prozedur ihre Wirkung auf die hohe Polizei in ganz entgegengesetzter Weise. Sie hielt sich nicht an die alte Schüttelbahrdten, sondern nur an die beiden Gauner, den Eisbeinaugust und den Schlamassenmax.

Aber das Interessanteste dabei ist das hohe Alter dieses abergläubischen Verfahrens. Der Erbschlüssel trat an die Stelle des Erbsiebs, die Schlüsselprobe ist ein Rest der alten Siebwahrsagung, der sogenannten „Koscinomantie“, deren schon der griechische Dichter Theokrit in einer seiner Idyllen Erwähnung thut und die sich bis auf unsere Zeiten erhalten hat.

„Sieh durch das Sieb!
Erkennst du den Dieb,
Und darfst ihn nicht nennen? –“

so läßt Goethe in der Hexenküche im „Faust“ den Kater zur Kätzin sagen. Der Kater „hat läuten hören, aber nicht zusammenschlagen“, denn man blickte nicht durch ein Sieb, um den Dieb zu erkennen, das Sieb wurde vielmehr genau in derselben Weise wie der Erbschlüssel aufgehängt und dann zwischen zwei Fingern im Gleichgewicht gehalten, um seine Bewegungen genau studieren zu können.

In der Stadt Villingen, dem Hauptsitze der Schwarzwälder Uhrenerzeugung, lebte vor dreihundert Jahren ein berühmter Arzt und Schwarzkünstler Namens Pictorius, der über die Siebwahrsagung geschrieben und sie durch Holzschnitte erläutert hat. Zwei einander gegenüberstehende Personen halten je mit dem Mittelfinger der rechten Hand eine Schere, welche ein Kornsieb gefaßt hat, dicht unterhalb der Feder, am oberen Ende der Scherenblätter. Die Schere ist eine Schafschere und sieht etwa wie eine Zuckerzange aus – das ganze Mittelalter hindurch hat die Schere keine andere Form gehabt. Die Menschen halten also die Schere, die Schere hält den Rahmen des Siebs, so daß dieses wie vorhin das Buch mit dem Erbschlüssel in der Luft baumelt, und nun nennen die Wahrsager abermals wie vorhin die Namen derer, die des Diebstahls verdächtig sind. Eine unsinnige alte Formel „DIES. MIES. JESCHET. BENEDOFFET. DOWIMA. ENITEMAUS“ sprechen sie dabei aus, durch welche der Dämon in das Sieb gebannt und gezwungen werden soll, den Dieb zu offenbaren. Bei dem richtigen Namen erzittert das Sieb, bei Wiederholung des Namens fängt es an, sich um sich selbst zu drehen und mit einer Heftigkeit zu rütteln und zu schwingen, daß den Männern, die halten, die Handhabe entgleitet und sammt dem Siebe auf den Boden fällt. Doktor Pictorius hatte das Zaubermittel selbst wiederholentlich erprobt und einmal bei einem Diebstahl, ein andermal bei einem Jagdfrevel, wo ihm ein Vogelnetz böswillig zerschnitten worden war, ein drittes Mal bei Gelegenheit eines verlaufenen Hundes, wie er meinte, mit gutem Erfolg angewendet; das letzte Mal indessen foppte ihn der Dämon, so daß unser Doktor Angst bekam und keinen weiteren Versuch mehr machte. Auch Erasmus von Rotterdam kennt die Siebwahrsagung; in Deutschland verbirgt sie sich, wie gesagt, hinter dem Erbschlüssel, in Frankreich und in England ist sie immer noch im Schwange.

Wie die Menschen aller Zeiten gerade auf das Sieb verfielen, läßt sich leicht errathen – sie wollten Gericht halten, und das Sieb erschien ihnen als ein Sinnbild der strengen gerichtlichen Untersuchung.

Die berühmteste unter den zahlreichen Akademien Italiens heißt bekanntlich die „Kleien-Akademie“ (Accademia della Crusca) und hat ein Sieb im Wappen: sie will gleichsam die Sprache durchsieben und beuteln und die guten Worte wie feines Mehl von der Kleie trennen. Keinem Volke ist der Vergleich des Examens, der Zensur mit einem Siebe so geläufig wie dem italienischen, die Italiener sagen ganz allgemein „eine Sache sieben“ für „eine Sache prüfen“, und mit der Vorsicht, die ihnen im Umgange angeboren ist, meinen sie, man müsse die Menschen gehörig sieben, ehe man ihnen traue. Diese Auffassung geht durch alle Sprachen – unser eigenes „sichten“ ist eigentlich so viel wie „sieben“ und eine „Kritik“ nichts anderes als eine „Sonderung“. In der Bibel will Gott das Haus Israel unter allen Heiden sichten lassen, gleichwie man mit einem Siebe sichtet. Das Sieb ist eine Art Wahrzeichen der Gerechtigkeit wie die Wage.

Daher der Gebrauch des Siebes nicht bloß um einen Diebstahl, sondern um Verbrechen und geheime Sünden aller Art aufzudecken. Ja, die dunkle Anschauung, wonach im Siebe gewissermaßen Schuld und Unschuld verborgen liege, führte sogar dazu, in wichtigen Fällen von ihm das Unmögliche zu verlangen: das Sieb sollte Wasser halten. Im römischen Vatikan, im Museo Chiaramonti, sieht man die Marmorstatue einer Vestalin, die ein Sieb in Händen hält; am Rahmen des Siebes liest man ein paar lateinische Worte, die besagen: „Also mache ich die Verleumdung zu nichte“. Es ist die Vestalin Tuccia, die eines Vergehens wider ihr Gelübde angeklagt war und, um sich von dem Verdacht zu reinigen, angeblich Wasser in einem Siebe vom Tiber bis zum Vestatempel trug, ein Wunder, das ihr im achten Jahrhundert n. Chr. die heilige Amalberga in Flandern nachgemacht haben soll. So sollte sich die geheimnißvolle Kraft des Siebes offenbaren im Gottesurtheil, zu dem der hilflose Mensch zu allen Zeiten gern seine Zuflucht nahm, wenn er nicht mehr weiter konnte.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_815.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2024)