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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

jedem Weihnachtsfeiertag dem König und der Königin in feierlicher Prozession als Gabe ein Zweig von dem berühmten Weißdornstrauch in Glastonbury überreicht, der beim Volke in dem Rufe stand, daß er in der Christnacht ausschlage und am Christtag über und über blühe. Auch um ihn hatte sich schon früh das Epheugrün der Sage geschlungen und ihn zu einem Sprößling des Stabes gemacht, den Joseph von Arimathia eigenhändig am Christabend in die Erde steckte und der sogleich Wurzeln schlug, Blätter trieb und am nächsten Tage mit milchweißen Blüthen bedeckt war. In jeder Christnacht blühte er, und alle seine Abkömmlinge besaßen die gleiche Fähigkeit. So ging es lange Jahrhunderte. Als aber 1753 in Quainton in Buckinghamshire ein Ableger des Glastonburyer Dornstrauches in der Weihnacht keine Sprossen trieb, während Tausende von Zuschauern mit Fackeln und Laternen an Ort nud Stelle versammelt waren, da behauptete das Volk, der 25. Dezember des neuen, eben damals auch in England eingeführten Gregorianischen Kalenders sei nicht der wirkliche Christtag; es weigerte sich, ihn als Fest zu begehen, und diese Weigerung behielt scheinbar recht, als der Weißdorn am 5. Januar wie gewöhnlich blühte, und das Volk war nicht eher beruhigt, als bis eine Verordnung erschien, welche befahl, den alten Christtag gleich dem neuen zu feiern.

Der Segen, den die Weihe der Nacht der athmenden und der leblosen Natur bringt, ist tausendfach: aber um ihn festzuhalten und ihn sich dienstbar zu machen, bedarf es doch des Eingreifens der Menschenhand.

Der Schwabe wie der Schwede windet in der Julnacht ein Strohseil um seine Obstbäume, der Aargauer ein Strohband, das er zur Zeit des Osteraufläutens geflochten hat; in Böhmen und Tirol schlägt und schüttelt man die Fruchtbäume, während es zur Christmette läutet, und in Pillersee ging man ehedem zur gleichen Stunde in den Obstanger, klopfte mit krummem Finger an jeden Baum und rief: „Aus, Baum; heut’ ist heilige Nacht, bring’ wieder viel Aepfel und Birnen!“ In Alpach (Tirol) läßt man jeden Baum von der Dirne umfassen, welche den Teig zum Weihnachtszelten geknetet und die Arme noch voller Teig hat; in Reichenberg (Böhmen) ladet man die Bäume höflich zum Abendessen ein und schüttet ihnen dann, da sie dieser Einladung gemeinhin nicht Folge leisten, die Reste davon hin, und am Rhein hing man vor Zeiten Epheuranken, Mistelkränze und Strohbüschel an den Fruchtbäumen auf – die letzten Reste des alten Opfers für die Wachsthumsgeister.

Aber der Zauber der Mitternachtsstunde erstreckt sich noch weiter. Die Glocken aller versunkenen Kirchen und Kapellen lassen ihr Geläut ertönen, die Gräber öffnen sich und geben den Toten für eine Stunde Leben und Bewegung wieder, Berge thun sich auf und lassen den, der im Besitz der „blauen Blume“ ist, den Eingang finden zu den Pforten der Unterwelt, wo Schätze auf Schätze gehäuft liegen und wo jeder zulangen und mitnehmen darf, soviel er will. Aber auch in diesem Reiche giebt es keine Zeit, und was dem Sterblichen als eine Minute erscheint, sind achtzig lange Erdenjahre. Ein Augenblick – er besinnt sich, daß er umkehren müsse; er schreitet zur Schwelle, die Pforte öffnet sich, und er tritt ans Tageslicht. Aber statt der blonden Locken deckt spärliches graues Haar seinen Scheitel, vom Kinn wallt ihm ein langer weißer Bart hernieder, und um ihn ist alles anders geworden. Seinen Heimathort erkennt er kaum wieder, die Menschen tragen andere Kleider und sehen ihn scheu an – es bleibt ihm nichts übrig, als nach der Kirche zu schreiten, dem einzigen Orte, der unverändert geblieben ist, und dort – in Staub zu zerfallen.

Wo ein Fluß, ein Bach durchs Thal rauscht, zwischen dessen Ufern fließt nicht mehr Wasser in der Weihestunde, sondern lauterer kostbarer Wein, und wer ihn schweigend trinkt, dem giebt er Schaffenskraft und Lebensfreude, Liebesglück und blühende Kinder und Enkel. Ein Mann in Gainfahrn in Niederösterreich glaubte das nicht. Er besaß viel Muth, und so ging er nach der Sage nachts zwölf Uhr an den Bach und schöpfte. Dabei sagte er: „Ich hab’ gehört, in der Christnacht wird Wasser zu Wein.“ Da erscholl hinter ihm eine tiefe Stimme: „Und ich habe gehört, Dein Kopf, der wäre mein.“ Damit riß es ihm rückwärts den Kopf ab, und am nächsten Morgen fand man den kopflosen Leichnam liegen.

Auch auf die Thierwelt wirkt die Weihe der Nacht. Wenn die Sonne um Mitternacht unter dem Horizonte, in dem Augenblicke, wo sie ihren neuen Jahreslauf anfängt, ihre beiden Freudensprünge macht, dann sinkt alles Vieh in den Ställen und alles Wild im Walde nieder auf die Kniee und betet. So geht in Schwaben die Sage. In Kärnten und Tirol reden die Pferde und Kühe der Bauern in derselben Stunde. Sie erzählen sich dann, was im kommenden Jahre geschehen wird, und wenn mancher wüßte, was sie plaudern, so könnte er daraus großen Vortheil ziehen. Manchmal freilich muß er auch kommendes Unheil hören. So ging es einem neugierigen Bauern, der sich am Christabend in die Raufe legte und horchte. Eben hob die Thurmglocke zum Schlage aus, da hörte er, wie der Grauschimmel zur Liese sagte: „Dies Jahr machen wir noch mit unserem Bauer los!“ Der Schreck warf ihn aufs Krankenlager, und bald zogen ihn die eigenen Rosse nach dem Friedhof.



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Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.
(6. Fortsetzung.)


Allmählich kam die bunte lustige Karnevalszeit heran. Therese saß über den neuesten Modezeitungen; der Lieutenant zeichnete ihr den Anzug einer schwedischen Bäuerin auf, den er reizend fand und wie geschaffen für ihre blonde Schönheit. Sie waren beide nach Tische allein im Eßzimmer zurückgeblieben. Papa Krautner und der Offizier hatten bei dem jungen Paare gespeist. Fritz war abgerufen worden, der alte Herr aber gegangen, sein Mittagsschläfchen zu halten. Vor den beiden standen die halbgeleerten Mokkatassen; über ihnen zogen die leichten blauen Ringel der Cigarette hin, die der Offizier rauchte. Die Luft war warm, nach Tabak, Orangen und Kaffee duftend. Im Kamin verglühte das Feuer und warf seinen Schein auf das spiegelnde Parkett bis zu dem Smyrnateppich unter dem massiven Tisch. Das fahle Licht des Januartages erhellte nur dämmerig das trauliche Zimmer. Die Zeitung knisterte in den Händen der jungen Frau und der Bleistift, welchen der Lieutenant führte, glitt hastig über das Papier. Sie blieben beide stumm, sie waren zum ersten Male ganz allein.

Nun verschränkte Therese die Arme unter der Brust und schaute unverwandt auf den Zeichnenden.

„So,“ sagte er möglichst unbefangen und doch nicht imstande, seine innere Erregung und das Beben seiner Stimme zu verbergen, „so – denken Sie sich nun die Farben dazu, die lebhafte bunte Stickerei, das wunderschöne Blau des Mieders, und Sie haben ungefähr eine Vorstellung davon. Ich sah diese Tracht auf einem schwedischen Schiffe; der Kapitän hatte seine junge Frau bei sich, eine blonde schöne Frau wie – Sie, Therese.“

Sie zuckte empor und ward glühend roth.

Dann wiederum tiefe Stille.

Sie erhob sich endlich und ging schweigend zum Kamin hinüber, ergriff den Feuerhaken und schürte in der Gluth. Er war ihr mit den Augen gefolgt, und sie mußte seinen Blick gefühlt haben, denn sie wandte sich um.

„Wollen wir ein wenig Schlittschuh laufen?“ fragte sie hastig.

„Wenn Sie befehlen!“

Therese trat jetzt in die Fensternische, um nach dem Himmel und dem Thermometer zu seheu. Er erhob sich und folgte ihr. So standen sie eng zusammen in dem abgeschlossenen Raume, fast ganz verborgen von dem bunten gewirkten Vorhang. Ein grünliches Licht quoll durch die kleinen bleigefaßten Scheiben – nur eine einzige hatte eine klarere Farbe.

„Wie oft habe ich hier gestanden,“ sagte er leise, „meinen Cornelius Nepos in der Hand, lernend und über das Buch in den Hof schauend, als wilder Junge jede Minute bedauernd, die mich hier oben hielt. Und dann, später einmal, da stand ich hier auch“ – und seine Hand streckte sich gegen die neue Scheibe aus – „Lasseu Sie die Erinnerungen!“ kam es fast bittend von ihren Lippen.

„Wollen wir also aufbrechen?“

„Ja!“ erwiderte sie; aber sie zögerte trotzdem. Und plötzlich wandte sie ihm voll ihr schönes Antlitz zu; es war mit Purpur überzogen. „Sagen Sie mir nur eins,“ klang es wie ein Hauch zu ihm hinüber, „daß Sie mir verziehen haben!“

„Nein – niemals!“

Sie sah ihn furchtsam an, dann senkte sie die Augen, zitternd und mit der Hand hinter sich greifend, um sich auf die Fensterbank zu stützen.

„Wie könnte ich der verzeihen, die mich meines Lebensglückes beraubt hat?“ fuhr er bitter fort. „Wollte ich dies Unrecht vergessen – ich müßte mich selbst vergessen können!“ Damit verbeugte er sich und ging. Therese blieb wie betäubt zurück.

Das Stubenmädchen kam nach einer langen Weile herein.

„Frau Doktor?“

Sie erhob sich schwerfällig. „Was wollen Sie?“

„Der Herr Lieutenant erwartet Frau Doktor zum Schlittschuhlaufen.“

Sie hatte die Hand an die Stirn gelegt. „Sagen Sie, ich bedaure, nicht kommen zu können, es sei zu spät geworden und – ich hätte Kopfweh. Oder nein, sagen Sie das letzte nicht!“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 827. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_827.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)