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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

denn ruhig liegen bleiben, als sie neben mir wie tot niederfiel? Hätte sie nicht tot bleiben können?’

,Das wohl,’ sag’ ich, ‚aber Du, Kind, Du!’ ‚Ich?’ giebt sie zurück. ‚Kommt denn mein Auge in Betracht, wenn es Mamas Leben gilt? Ich behalte ja noch ein Auge.’ Dann aber, als ich – ich kann’s nicht zurückdrängen – ein kurzes Schluchzen ausstoßen muß, hebt sie ein wenig ihre Hand auf der Bettdecke, als wolle sie nach der meinem greifen. und als ich meine Hand aufs die ihrige lege, drückt sie sie schwach und flüstert: ,Onkel, ich hab' mich besser gemacht, als ich bin. Ich habe – Onkel, ich habe gezaudert! Ich dachte– ich wehrte mich. aber es schoß mir durch den Kopf, tausend Gedanken auf einmal – ich bin eitel, Onkel, ich habe mich meiner Schönheit gefreut, und dann – die Zukunft, das lange lange Leben, so dunkel, so leer – ohne Kurt. Denn ich weiß, daß ich ihn verloren habe. Er wird mir natürlich treu bleiben wollen –’ sie stockte; dann wich alles Blut aus ihren Wangen und sie sagte noch leiser, mit wehem Ton: Mein, Onkel, ich weiß auch das: er wird sich nur zum Schein weigern, mich aufzugeben. Er hat ja nur meine Schönheit geliebt. Ich habe das immer gewußt, habe auch immer gefühlt, daß ich mit ihm unglücklich werden würde – und hab’ doch nicht von ihm lassen können. Auch jetzt noch Die Stimme versagte ihr. Aber nach einer Weile fuhr sie tapfer fort: ,So ist’s denn gut, daß der liebe Gott mir die Entscheidung aus der Hand genommen hat. Denn da der mich nun an den ganz offenbaren, ganz klaren Scheideweg gestellt hat: die Mutter oder Kurt – da hab’ ich doch gar nicht anders könne, ich hab’ die Mutter wählen müssen. Und es ist gut so. Ich werd’s überwinden. Und dann wird mein Leben wieder klar sein. Wir werden immer zusammenbleiben, Mutter und ich – und das ist das wahre Glück auch für mich.’

Sie schwieg. Und ich - nun ich schäme mich dessen nicht, ich weinte wie ein Kind. Dabei hatt’ ich aber doch ein Gefühl, als müßt’ ich Gott danken – schon dafür, daß er solch ein Geschöpf in die Welt gegeben hatte wie die Marianne.

Wäre es möglich gewesen, so würde sich meine Bewunderung für das Mädchen noch gesteigert haben auf dem langen langen Leidensweg, den sie nun zurückzulegen hatte. Denn, liebe Freundin, im Augenblick, wo es alles oder nichts heißt, sich zu einer heroischen That aufschwingen, das ist noch nicht das Schwerste, das erfordert nur ein edel geartetes Gemüth. Aber diese Aufopferung monate-, jahrelang fortsetzen, im unscheinbare Kampf mit tausend kleinen Hindernisse und Leiden, und dabei lächeln, das erfordert mehr, tausendmal Schwereres: unerschütterliche Selbstzucht.

Wochenlang mußte Marianne noch unbeweglich liegen; nachdem das linke Auge unrettbar verloren war, mußte wenigstens das rechte geschützt werben, das in Gefahr war, von der Entzündung, die sich nun einstellte, mitergriffen zu werden. Diese Gefahr wurde dank Mariannes Willenskraft abgewendet. Aber diese körperliche Selbstbeherrschung war doch die geringere der gegenüber, mit welcher sie die Mutter leise, ganz allmählich auf den Verlust des Auges vorbereitete. Doch trotz aller Vorbereitungen traf der Schlag die Betty mit ungeheurer Wucht. Sie konnte und konnte sich nicht darein finden und fügen; sie, die nie geklagt hatte, jammerte Tag und Nacht; sie vergaß, welche Angst sie um das Frauenlos Mariannes gelitten hatte, und es erschien ihr schlimmer als der Tod, daß das Geschick ihrem Kinde Schönheit, Liebe und Zukunft auf immer zerstörte. Da mußte denn die Marianne tapfer lächeln, mußte immer wieder trösten und schelten und versichern, daß das körperliche Leiden gar kein seelisches in ihr habe aufkommen lassen und daß sie nun, da sie so mühelos ihre Liebe überwunden habe, einsehe, es sei gar keine Liebe gewesen, sondern nur eine Art von Bezauberung. Jetzt sei der Bann gelöst, sie fühle sich frei und glücklich und freue sich, daß niemand und nichts sie je von der Mutter trennen werde. Denn es sei nicht ihre eigentliche Bestimmung, zu heirathen; die Liebe jenes Mannes sei zu rauh und gewaltsam für ihre verzärtelte kleine Person und zu heiß für ihr stilles Gemüth gewesen; sie sei ein Mutterkind und eine geborene alte Jungfer.

Und nach und nach glaubte sie selbst, was sie sagte, und Betty glaubte es auch. Da fanden sie beide zuletzt das reinste und friedlichste Glück.“

Der Doktor schwieg. Ich aber unterbrach das Schweigen mit der zaghaften Frage nach Kurt.

Der Doktor lachte geringschätzig auf. „Der?“ sagte er. „Nun, natürlich gebärdete er sich zuerst wie ein Rasender, wollte auch seine Braut um keinen Preis aufgeben, sprach von Mannesehre, von Treue und ähnlichen schönen Dingen. Als ich ihm dann einmal von weitem das Mädchen mit der schwarzen Binde um Auge und Gesicht zeigte, sah ich, daß er blaß wurde und es ihn schüttelte. Er ließ dann nichts mehr von sich hören – direkt, meine ich. Denn das Gerücht von den Gelagen und Abenteuern, in denen er seinen Liebesgram und vielleicht auch seine Selbstverachtung betäubte, drang auch bis zu unsern Ohren. Als Marianne davon vernahm, schmiegte sie sich nur um so enger an die Mutter an, und ich glaube, Betty dankte Gott in ihrem Herzen, daß er ihr Kind vor diesem Manne bewahrt hatte, und gab sich endlich zufrieden über die Art, in der es geschehen war. Zwei Jahre später ist Kurt Trenk mit dem Pferde gestürzt und elend ums Leben gekommen.

In demselben Jahre holten die beiden Frauen das kleine Mädchen zu sich, das Sie neben ihnen gesehen haben. Die Marianne hatte ihr früheres Dienstmädchen, die Liese, in ihrer letzten Krankheit gepflegt und nahm deren Kind zu sich, wobei sie freilich zuerst den Widerstand ihrer Mutter durch Bitten und festen Willen zu besiegen hatte. Die arme Betty war eifersüchtig und fürchtete eine Theilung von Mariannes Liebe. Nun aber hat sie sich längst in die Großmutterrolle eingelebt, und das Kind bringt frische Luft und Zukunftshoffnung in das Leben der einsamen Frauen.“

Wieder schwieg der Sanitätsrath. Ich aber murmelte leise: „Arme Marianne!“

„Arm?“ erwiderte der Doktor fast heftig. „Hat sie nicht ihre Mutter und das Kind? Und ist sie nicht in reinem Frieden mit sich selbst? Giebt es ein besseres Glück?“

„Vielleicht nicht,“ mußte ich zugeben.




Originalgestalten der heimischen Vogelwelt.[1]
Thiercharacterzeichnungen von Adolf und Karl Müller.


9. Philister und Plebejer

Vom feinen prächtigen gesangreichen Distelfink zum plumpen, schmutzig gefiederten, piependen Gesindel der Sperlinge – welch ein Gegensatz!

Da sitzt auf knospenreichen Obstbaumzweigen eine Gesellschaft Haussperlinge in der wärmenden Frühlingssonne. Ihre Strahlen erwecke auch in den Spatzen ein Gefühl des Behagens, aber wie äußert es sich? Nicht in melodiösem Gesang – wie zum Spotte gab die Natur dem lungernden Gaste unserer menschlichen Wohnstätten ein verkümmertes Gezwitscher, einen Mischmasch von Piepen und Gezirp. „Tschell, bell, dill! Zip, zip, schip, dell!“ so hämmert es aus den rauhen Kehlen der dickschnäbeligen Geschöpfe. Der Philister Spatz singt, oder vielmehr, er giebt sich den Anschein, als ob er ein Singvogel wäre. Aber bald macht diese pseudomusikalische Frühlingsanwandlung einer andern Laune Platz, die aus den Charakter unseres Helden ein bedenkliches Licht wirst. Statt mit Piepen beginnen sich seine Kiefer mit Picken zu beschäftigen, und das Opfer sind die Blüthen- und Blattknospen seiner Umgebung; eine um die andere verfällt den unbarmherzigen Beißmuskeln des derben Gesellen. Und es ist nicht einmal Nahrungstrieb, was ihn dazu verführt: es ist ein muthwilliges, unartiges Spiel, der reine Baumfrevel Wie könnte der Kerl sonst die abgebissenen Knospen, kaum daß er sie zwischen den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 424. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_424.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)