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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Verbrecherbanden in Indien.

In Vorderindien leben auf einer Gebietspacht dje das Deutsche Reich um das Sechsfache übertrifft, rund 280 Millionen Menschen, die in Bezug auf Abstammung, Sprache, Religionsbekenntniß, sittliche Anschauungen und Lebensgewohnheiten viele Verschiedenheiten aufweisen. Von den Eingeborenen sind der „Kaiserin von Indien“ etwa 216 Millionen unmittelbar unterthan; fast 64 Millionen vertheilen sich auf die unter britischem Schutze stehenden Staaten, deren man mehrere hundert zählt. Man kann sich dort in das weiland Heilige Römische Reich Deutscher Nation versetzt glauben, so verschieden sind die indischen Fürsten an Rang, an Umfang und Bedeutung ihrer Länder und an Machtbefugniß, und so verschiedenartig abgestuft ist ihre Lehnsabhängigkeit voneinander und von der indischen Kaiserin. Neben Herrschern, die über Millionen von Unterthanen gebieten, giebt es unseren Reichsfreiherren ähnliche, erbliche und mit Adelstiteln bezeichnete Besitzer von Dörfern; neben mächtigen Fürsten, deren Selbständigkeit nur durch die Anwesenheit eines britischen Residenten in ihrer Hauptstadt beschränkt ist und die in der inneren Verwaltung ihres Landes unbehindert sind, giebt es Fürsten und Barone, denen Volt ihrer Selbstherrlichst wenig und oft nur ein Titel und ein mehr oder weniger reichliches Einkommen geblieben ist. Von den Eingeborenen sind die einen Vertreter und Träger hoher, alter Kultur; daneben sind Tausende und Abertausende namentlich in den wüsten Gegenden des mittleren und nordwestlichen Indiens noch fast jeder Einwirkung der Civilisation entrückt; einzelne Volksstämme haben ihre nomadisierende Lebensweise noch nicht aufgegeben und verwenden als Waffen noch Keulen, Bogen und Pfeile. Eine durchgreifende Sicherheitspolizei, welche die Person und das Eigenthum wie in einem europäischen Lande schützte, ist in den Schutzstaaten noch weniger möglich als in den von den Engländern unmittelbar beherrschten Gebieten. Die Zahl aller in Indien lebenden Engländer beträgt nur etwa 150 000, so daß ein Engländer auf etwa 1860 Eingeborene kommt. Besteht die große Mehrzahl der indischen Bewohnerschaft aus dem friedlichen Volke der Hindu, so fehlt es doch nicht an unternehmenden, kriegerischen und raublustigen Stämmen, und unter versprengten Resten von Völkerschaften, deren Abstammung zweifellos festzustellen noch nicht hat gelingen wollen, giebt es Leute, die den Raubmord als ihren Beruf, als göttlichen Auftrag ansehen und von Jugend auf dafür erzogen werden. Was der englische General Herdey, der mehrere Jahrzehnte in Ostindien gelebt und an der Spitze der dortigen Polizei gestanden hat, in seinem neuerdings erschienenen Buche „Some records of crime“ von den indischen Verbrechersekten und -banden erzählt und was wir aus anderen Onellen darüber erfahren, läßt den Schluß zu, daß auf diesem Gebiete den englischen Behörden noch manche schwere Aufgabe zu lösen bleibt.

Die schlimmste Sekte dieser Art sind die Thugs, eine Verbrecherkaste, die einst die Geißel Indiens bilbete, dann für ausgerottet galt, aber, wie sich aus neueren Veröffentlichungen ergiebt, doch noch ihr entsetzliches Dasein in vielfach verrohten Formen weiterfristet. Auf eine eigentümliche, naiv grausige Legende gründet sie ihr schauerliches Gewerbe. In dem Kampf zwischen Wischnu und Siva, zwischen dem schaffenden und dem zerstörenden Prinzip, so lantet die Lehre der Thugs, erwies sich der erstere so mächtig, daß der Gegner nicht mit ihm Schritt zu halten vermochte. Mehr und mehr wurde die Erde bevölkert, bis schließlich der große Zerstörer Siva auf neue Mittel sinnen mußte, dem täglichen Anwachsen des Menschengeschlechts Einhalt zu thun. So berief denn seine Gemahlin, die schreckliche Bhawani oder Kali, eine Anzahl ihrer treuesten Verehrer unter den Menschen zu sich, unterrichtete sie eigenhändig in der Kunst des Erdrosselns, fertigte ihnen Schlingen aus dem Saum ihres Kleides und sandte sie hinaus in die Welt mit dem Befehl, jeden zu vernichten, den sie in ihre Hände gebe, die Leichen aber ruhig liegen zu lassen, da sie dieselben höchst eigenhändig beiseite schaffen würde. Sie sagte ihnen bei der Ausführung dieses göttlichen Auftrags ihren mächtigen Schutz und unmittelbare Leitung durch Wahrzeichen zu; zur Belohnung aber versprach sie ihnen dereinst die Freuden des Himmels und überließ ihnen hier auf Erden die Schätze der erwürgten Opfer. Jahrhunderte vergingen in dieser Weise; die Thugs dienten der Kali treu und eifrig, befolgten aufs pünktlichste ihre Vorschriften und wurden von ihr durch Beseitigung der Leichen vor jeder Entdeckung und menschlichen Strafe bewahrt. Doch die zunehmende Verderbtheit der Welt ergriff schließlich auch die Thugs, und einen von ihnen trieb ruchlose Neugier an, die Göttin zu belauschen. Er schlich sich zur Stelle des letzten Mords und – fand die schreckliche Kali beschäftigt, den Leichnam zu verzehren. Aber auch ae hatte den Missethäter erblickt, und zur Strafe that sie den Thugs kund und zu wissen, daß sie es hinfüro ihnen selbst überlassen würde, die Leichen zu beseitigen und sich gegen die Gefahr einer Entdeckung zu schützen. Im übrigen aber entzog sie ihren Dienern ihre Huld nicht, beschenkte sie sogar aus besonderer Gnade noch mit einem ihrer Zähne als Grabscheit oder Hacke - seitdem das heilige Symbol dieser Mörderkaste.

Da die Kali das Vergießen von Blut verabscheut, so vermeiden die Thugs bei ihren Mordanfällen den Gebrauch schneidender und stechender Waffen, ja sie unterlassen es sogar, sich zu rasieren, weil einmal ein Tropfen Blut dabei fließen könnte, aber sie erdrosseln und vergiften ohne Gewissensbisse. Sie betrachten die Gemordeten lediglich als Opfer, die sie der Göttin gebracht, der Mord ist ihr Beruf, so gut wie die Bestellung des Ackers der des Bauern. Und es ist nur folgerichtig, wenn die Höhe der erwarteten Beute gar nicht einmal so sehr den Ausschlag giebt. Ein Thug hat einmal vor Gericht den Ausspruch gethan: „Wir betrachten 8 Annas (etwa = 1 Mark) als eine recht gute Bezahlung für den Mord eines Menschen, und wir töten oft einen, wenn wir vermuthen, daß er zwei Pais (= 2 Pfennig) im Besitz haben könnte.“ Sie unternehmen ihre Züge, die sie durch ganz Indien führen, selten einzeln, meist in Gruppen zu zehn bis dreißig Mann. Unter der Maske von Geschäftsleuteu oder Wallfahrern nähern sie sich auf Landstraßen und Bahnhöfen oder in den Bazaren und Herbergen solchen Leuten, von denen sie wissen oder vermuthen, daß sie Geld oder Geldeswerth bei sich tragen. Gern gesellen sie sich zu den fremden Kaufleuten, die aus den nordwestlichen Nachbarländern Waren nach Indien gebracht haben und nun mit vollem Beutel in ihre Heimath zurückkehren. Sie suchen sich das Vertrauen der Leute zu erwerben, spielen die gefälligen Reisegefährten, zihen oft längere Zeit mit ihnen und nehmen dann eine günstige Gelegenheit wahr, ihren Streich auszuführen. Während der Mittagsruhe oder im Nachtquartier erdrosseln sie ihre Opfer mittels eines Tuches oder einer Schlinge - ein Verfahren, in dem sie geübt sind - berauben sie ihrer Werthsachen und beeilen sich dann, eine andere, entlegene Gegend aufzusuchen. Noch häufiger wenden sie in neuerer Zeit Gift an, und zwar mit Vorliebe den Stechapfelsamen. Sie mischen dieses Gift in unauffälliger Weise den verschiedenartigen Speisen bei, welche von den Reisenden unterwegs meist selbst bereitet werden, oder sie haben vergiftetes Zuckerwerk bei sich, das sie als Beitrag zu den gemeinsamen Mahlzeiten oder als Geschenk anbieten. Sie führen sich auch als fromme Pilger oder Bettler in Wohnhäuser ein, besonders wenn von den Bewohnern nur Frauen und Kinder anwesend sind, und bitten um Gastfreundschaft oder um die Erlaubniß, sich eine Weile ausruhen zu dürfen. Da findet sich dann leicht die Möglichkeit, ihr Gift wirken zu lassen, und häufig gewinnen sie reiche Beute, da in Indien selbst minder wohlhabende Frauen gewohnt sind, Kostbarkeiten wie Goldschmuck, Goldmünzen, Perlen oder Edelsteine an sich zu tragen und selten abzulegen. Hierbei ist indessen zu bemerken, daß dem strengen Thug eigentlich die Frauen heilig und unverletzlich sind, und tatsächlich ist dieser Grundsatz auch in vielen Theilen Indiens nach den älteren Nachrichten niemals übertreten worden. Viele der gefangenen Mordbrüder erklärten vor den englischen Richtern, daß sie nie Hand an eine Frau legen würden, „nie, und wenn sie eine Lakh, und wenn sie zwei Lakh[1] Rupien bei sich hätte“. Manche Reisegesellschaft ist durch die Anwesenheit einer Frau gerettet worden. Diese Schranke aber scheint, wie so manche andere, von dem Epigonengeschlechte unter den Thugs nicht mehr geachtet zu werden.

wie auch das Gift in den älteren Berichten eine untergeordnete

  1. 1 Lakh = 100 000, 1 Lath Rupien = rund 190 000 Mark.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 862. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_862.jpg&oldid=- (Version vom 28.3.2019)