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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Im Fieber.
Von Professor Dr. E. Heinrich Kisch.

Niemals wird den Schrecken dieser zwei Worte „Im Fieber“ vergessen, wer je an sich oder an einem seiner Lieben erfahren hat, was sie bedeuten. Frage die Mutter, ob sie nicht ihr Leben lang an jene Nächte denkt, die sie bangen Herzens am Bette ihres Lieblings wachte, da dieser, vom Fieber erhitzt, mit glühenden Wangen, brennenden Augen und versengten Lippen sich auf dem Lager ruhelos umherwarf, in wirren Worten die schrecklichen Gestalten ansprach, welche sein krankes Hirn ihm vorgaukelte, und die tröstende Stimme seines Mütterchens nicht zu erkennen vermochte! Wie oft fühlte in dieser Zeit die zitternde Hand nach dem kleinen Köpfchen, ob die Stirne noch immer so heiß sei, wie oft tastete sie nach dem Pulse, ob er noch immer so schnell dahinrase, wie oft blickte das Auge nach dem Thermometer, jenem wichtigen Instrumente, ob es den silbernen Faden noch immer so hoch hinauftreibe. Ja, ja, eine fürsorgliche Mutter ist ein halber Doktor, wenn ihr Kind „im Fieber“ liegt, und was möchte sie nicht alles thun, um die Hitze, die schreckliche Hitze zu mindern …

In der That ist das Wesentliche eines jeden fieberhaften Zustandes eine Steigerung der Wärmebildung im Körper, eine stärkere Verbrennung der den Organismus aufbauenden Stoffe; und aus der Höhe der krankhaft gesteigerten Temperatur, aus dem Gange ihrer Zunahme läßt sich ein Urteil über die Stärke und den Verlauf des Fiebers bilden. Darum sollte in jeder Häuslichkeit ein genauer Thermometer zum Messen der Körperwärme vorhanden sein, am besten ein sogenannter „Maximumthermometer“, dessen Quecksilbersäule rasch ansteigt und bei dem Wärmegrade, den sie jeweilig anzeigt, unveränderlich stehen bleibt. Zwar wird dieser Thermometer manchen unnützen Lärmruf veranlassen, aber auch manche drohende Gefahr wachsam zuerst verkünden – denn die hohe Körperwärme ist zwar nicht immer allein das Ausschlaggebende und Besorgnis Begründende, aber stets ist sie ein Warnungssignal, das volle Beachtung verdient. Die Körperwärme eines gesunden Menschen, in der Achselhöhle gemessen,[1] beträgt 37° C. Geringe Schwankungen finden auch im normalen Zustande statt, sie hängen von dem Lebensalter des Menschen, von der Tageszeit, in welcher die Messung vorgenommen wird, von körperlicher Bewegung u. a. ab. Indes betragen diese möglichen Schwankungen beim Gesunden kaum 1° C., und sobald der Thermometer 38° C. zeigt, ist diese Wärmesteigerung verdächtig.

Jener deutsche Arzt und Forscher, welcher die größten Verdienste um die Würdigung der Wärmemessuug bei fieberhaften Erkrankungen sich erworben hat, Professor Wunderlich in Leipzig, hat folgende Stufen angegeben: Leichtes Fieber 38 bis 38,4° C., mäßiges Fieber 38,5 bis 39° des Morgens und bis 39,5° des Abends, beträchtliches Fieber 39,5° des Morgens und bis 40,5° des Abends, hohes Fieber über 39,5° des Morgens und über 40,5° des Abends. Wenn die Körperwärme mehrere Tage über 41,7° ansteigt, ist das Leben in hohem Maße bedroht, und wenn sie 42,5° erreicht hat, ist nicht mehr auf Rettung zu hoffen, denn die Erfahrung am Krankenbette wie der Tierversuch haben erwiesen, daß das Leben nur bis zu einer bestimmten Höhe der Körperwärme erhalten bleiben kann und daß ein diesen Grad übersteigendes Fieber Veränderungen in den Organen hervorbringt, welche tödlich wirken. Es ist darum begreiflich, daß der Arzt und die Angehörigen des Kranken das Steigen und Fallen der Quecksilbersäule mit sorgsamer Genauigkeit und ängstlicher Pünktlichkeit verfolgen, besonders dann, wenn die Höhe von 40° erreicht ist und jeder Zehntelgrad mehr die Aussicht auf Genesung zu trüben vermag.

Allein das Fieber drückt sich nicht bloß in einer Erhöhung der Körperwärme aus, sondern umfaßt noch eine Reihe von weiteren Erscheinungen, welche auf tiefe Veränderung des gesamten Stoffwechsels deuten. Die Herzbewegung ist beschleunigt, die Zahl der Pulsschläge vermehrt, die Atemzüge werden häufiger, der Appetit geht verloren, die Verdauung ist gestört, der Durst wesentlich gesteigert, die Kraft der Muskeln herabgesetzt, das Nervensystem in seiner Thätigkeit beeinträchtigt. Eine allgemeine Abspannung giebt sich kund, Unfähigkeit zu geistiger Arbeit, dann wiederum übermäßige Empfindlichkeit der Sinnesorgane, Kopfschmerz, Flimmern vor den Augen, Ohrensausen; Schlaflosigkeit oder beängstigende Träume treten auf, abwechselnd mit krankhaften Erscheinungen einer erregten Phantasie, Wahnvorstellungen mannigfacher Art. Es kommt zu verschiedenen Veränderungen im Blute und in den Absonderungssäften, Veränderungen, welche darauf deuten, daß eine verstärkte Verbrennung im Organismus und eine raschere Abwicklung aller Lebensvorgänge stattfindet, wodurch die Gewebe bedroht werden.

Das Fieber kann die verschiedensten Ursachen haben, den mannigfaltigsten Verlauf nehmen und sehr wechselnde Dauer besitzen. Es ist darum selbst für den Arzt schwierig oder unmöglich, wenn er zu einem im Fieber liegenden Kranken gerufen wird, sich sogleich über die Natur und die Gestaltung des fieberhaften Zustandes auszusprechen. Zuweilen ist der ganze Sturm bedrohlicher Erscheinungen mit einem kurzen, nur wenige Stunden dauernden Anfalle vorüber. Bei sehr empfindlichen Personen, bei Frauen und Kindern treten nach leichten Erkältungen, ja schon nach seelischen Erregungen hier und da sehr heftige Fieberanzeichen auf, so daß man, wenn man auf dem Thermometer die hohe Temperatursteigerung abliest, wer weiß welch schlimme Erkrankung befürchtet – und doch ist binnen 24 Stunden der ganze Spuk spurlos verschwunden. In anderen Fällen, wenn das Fieber Begleiterscheinung stärkerer Entzündungen ist, dauert es mehrere Tage, ja Wochen und Monate mit geringen fieberfreien Unterbrechungen. Der Abfall der Körpertemperatur von der Fieberhöhe kann sehr rasch erfolgen – man bezeichnet es als eine „Krise“, wenn dieses Sinken zur normalen Körperwärme so schnell vor sich geht – oder die Entfieberung kommt nur allmählich zustande und die Krankheit geht langsam in die Genesung über, während deren die Temperaturmessungen ein Sinken der Wärme, zuweilen aber wieder neue anhaltende Steigerungen, also Rückfälle verzeichnen. Ein plötzliches, ganz bedeutendes Sinken der Körpertemperatur unter die Norm, verbunden mit den Erscheinungen starken Verfalles der Kräfte, mit sehr beschleunigtem und sehr schwachem Herzschlage und Pulse, Kaltwerden und Erbleichen von Nase, Wangen, Ohren, Händen und Füßen, zeugt nicht selten von unglücklichem Ausgange der Krankheit – doch das sind Verhältnisse, welche der Arzt zu beurteilen und zu überwachen hat. Für den Laien ist es nur von Wichtigkeit, sich vor Augen zu halten, daß nicht jedes Fieber zugleich einen gefahrvollen Zustand bedeuten muß, ja man ist in jüngster Zeit zu der Erkenntnis gekommen, daß das, was wir „Fieber“ nennen, ein von der Natur selbst eingeleiteter Heilprozeß sein kann, daß durch das Fieber zuweilen nicht der menschliche Organismus, sondern ein diesen bedrohender Feind vernichtet wird.

Bekanntlich hat die Medizin der Neuzeit dargethan, daß gewisse, namentlich ansteckende Allgemeinerkrankungen des Körpers durch Bakterien – einfachste und kleinste, nur mittels sehr starker mikroskopischer Vergrößerung sichtbare Lebewesen – verursacht werden. Nun hat es sich gezeigt, daß bestimmte derartige Erkrankungen, welche frühzeitig von sehr starkem und andauernd hohen Fieber begleitet waren, nach kurzem Zeitraume heilten, und es wird dies dahin gedeutet, daß die hohe Fiebertemperatur jene krankheiterregenden Bakterien in ihrem Wachstum behindert habe, daß durch die Ueberheizung des Körpers der Nährboden für die Bakterien derart verändert worden sei, daß diese zu Grunde gingen oder ihre schädliche Wirksamkeit verloren. Anderseits werden auch durch das Fieber und die hiermit verbundene stärkere Verbrennung des Gewebematerials manche unnütze und schädliche Stoffe unmittelbar aus dem Körper entfernt, wodurch gleichfalls zuweilen eine Selbstheilung von Krankheiten zuwege gebracht wird.

Wo das Fieber aber durch seine Höhe und Dauer bedrohlich auf den Organismus wirkt, hat der Arzt in gewissen Arzneien Mittel an der Hand, die Körpertemperatur herabzusetzen. Außer dem alten und vielfach unersetzlichen Chinin hat der Fortschritt

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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_018.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)
  1. Man schiebt zu diesem Behufe den Thermometer von rückwärts in die Achselhöhle hinein, läßt den Oberarm fest an den Brustkasten anziehen und den spitzwinklig gebeugten Unterarm auf die vordere Brustfläche legen.