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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


berührte, erinnerte sie an ein Begräbnis. Aber sie wollte und konnte der dämmernden Erkenntnis noch nicht völlig recht geben. „Welch ein furchtbarer Traum!“ rief sie und wurde noch einmal ohnmächtig.

Indessen war der Totengräber, der beim Verlassen der Kirche die Mitternachtstunde hatte schlagen hören, vor dem Schlosse angekommen. Sein dringendes Begehren nach Einlaß fand Gewährung; der Graf saß, von Kummer und Sehnsucht erfüllt, noch auf und ließ ihn in sein Zimmer treten. Nachdem der Diener sich entfernt hatte, warf sich der Totengräber dem Grafen zu Füßen, eröffnete ihm, was er in der letzten Stunde gethan und erlebt hatte, bat ihn um Verzeihung und forderte ihn auf, ihn zur Kirche zu begleiten.

Jetzt war es an dem Grafen, für einen Traum zu halten, was er erfuhr; die Hoffnung, seine geliebte Frau lebend wiederzusehen, kämpfte in ihm mit der Befürchtung, daß man ihn täuschen wolle. „Wehe Dir. wenn Du mich betrügst!“ rief er dem Totengräber zu. „Aber wenn Susanne“ – so hieß die Gräfin – „mir wiedergegeben wird, dann möge Gott Dir verzeihen und die Wohlthaten segnen, mit denen ich Dich überhäufen will.“

Von einem Diener begleitet, begab sich der Graf mit dem Ueberbringer der seltsamen Botschaft ungesäumt zur Kirche. Niemand sprach ein Wort. Der Diener, den der Schrecken über den nächtlichen Kirchenbesuch fast lähmte, wurde an der Thür zurückgelassen. Ungeduldig schritt der Graf, dem Totengräber, der die Laterne trug, voraneilend, durch das Schiff der Kirche nach dem Chor. Zufällig gingen sie nicht an der Seite des Altars vorüber, wo die Gräfin niedergesunken war, und in der Eile und bei der dürftigen Beleuchtung wurden sie ihrer nicht gewahr. In der Gruft angekommen entdeckten sie mit Entsetzen, daß der Sarg leer war.

„Susanne!“ rief der Graf, „meine Geliebte, wo bist Du?“

Nur ein dumpfes Echo antwortete.

„Elender, grabschänderischer Schurke!“ wandte sich der Graf nun an den Totengräber. „Du hast mich betrogen!“

„Die Gräfin muß hier sein.“ beteuerte der Totengräber, der aus Furcht vor dem erregten Manne in die Knie gesunken war; „Gott nehme mein Leben auf der Stelle, wenn ich gelogen habe!“

„Der Eid komme auf Dein Haupt!“ antwortete der Graf und durchsuchte dann, seiner Besinnung fast beraubt, immer wieder die Gruft. Neben dem Sarge fand er das Messer, das der Totengräber dort hatte liegen lassen. Ein grimmiges Lächeln irrte über die Züge des Grafen. Er hielt jenem das Messer vor die Augen und sagte: „Sieh, Gott ist gerecht! Dies war das Werkzeug Deiner abscheulichen That, und er giebt es jetzt in meine Hand, damit ich an Dir Rache nehme. Sprich ein letztes Gebet!“ Dann umfaßte er mit der Linken den Knienden und holte mit der Rechten zum Stoße aus.

In diesem Augenblick wurde über ihm ein vernehmlicher Seufzer laut. Er ließ den Arm sinken und näherte sich aufhorchend der Treppe; der Totengräber folgte ihm. Da hörten beide noch einmal ein Aufseufzen, und während sie die Treppe hinaufstiegen, ein drittes Mal. Und nunmehr fanden sie, dem Laute nachgehend, die Gräfin. Der Graf warf sich über sie, und indem er sie umarmte und küßte, entdeckte er, daß sie atmete, daß ihr Herz schlug. In der Ueberschwenglichkeit seiner Empfindung rief er aus: „O mein Gott, habe Mitleid mit mir! Hilf mir, darum flehe ich Dich an, denn ich fühle, daß meines Geistes Kräfte mich verlassen.“ Zu seinem Begleiter sagte er: „Mann, mein Freund, Dir gehört mein Dank, mein Vermögen, mein Leben! ... Hier, faß meinen Mantel an! Schnell! Hüllen wir sie ein! Vorsichtig! Geh’ leise! Sie schläft. Daß wir sie nicht wecken!“

Die beiden Männer trugen nun die Gräfin aus der Kirche. Als sie mit ihrer Last vor die Thür traten, bekreuzte sich der Diener und wandte sich zur Flucht. Ein befehlendes Wort des Grafen rief ihn zurück. Er mußte die Laterne nehmen und den beiden Trägern auf dem Wege zum Schlosse voranleuchten.

Eine Stunde später lag die Gräfin, von der aufmerksamsten Pflege umgeben, tief schlafend in ihrem Zimmer. Der Graf lauschte ihren Atemzügen. Nach einigen Stunden erwachte sie, und in wenigen Tagen war sie völlig hergestellt.

Vierzehn Tage nach jener Beisetzungsfeier riefen die Glocken von Beaujeu die Bewohner des Städtchens wieder aus einem besonderen Anlaß zur Kirche. Der Graf und die Gräfin hielten das neugeborene Kind des Totengräbers, den die Großmut des Grafen zum wohlhabenden Manne gemacht hatte und der, da der Graf Gerichtsherr war, von jeder gerichtlichen Verfolgung verschont blieb, über die Taufe. Nachher fand auf dem überdeckten Schloßhofe eine Festlichkeit statt, zu der alle Bewohner von Beaujeu geladen waren. Die Kunde aber von dem Scheintod und der Rettung der Gräfin verbreitete sich durch ganz Europa und erregte allgemein begreifliches Aufsehen, obwohl damals der große Krieg, der dreißig schwere Jahre dauern sollte, die öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.


Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.

     (8. Fortsetzung.)


Als Ilse die schmale und selten benutzte Thüre öffnete, um mit Herrn von Montrose auf den Altan des Schlosses zu gelangen, schlug ihnen eine dumpfe eingesperrte Luft entgegen und nahm ihnen den Atem. Es war dämmerig hier innen, nur ein mattes Licht kam durch die blinden runden Scheiben, die in die dicken Steinmauern eingelassen waren. Eine schmale Wendeltreppe mit engen Steinstufen führte empor. Da wo sie das stärkste Knie machte, hörte die schwache Beleuchtung ganz auf.

Ilse sah sich nach ihrem Begleiter um; er tastete sich vorsichtig weiter, aber jetzt blieb er stehen, offenbar fand er sich nicht mehr zurecht. Es blieb ihr nichts übrig, als ihm die Hand zu reichen. „Sie können nichts sehen, es ist finster hier – bitte, kommen Sie!“ Sie biß die Zähne übereinander, damit ihre Hand nicht zittern sollte, und zog ihn nach sich, Stufe für Stufe. Seine Hand war nicht kalt und hielt ihre Rechte nicht fest; dennoch war es ihr, als stiege eine tödliche Kälte im ihrem Arm empor, als hielte eine eiserne Klammer ihre Hand umspannt, der sie sich nie mehr entwinden könnte ... nie mehr!

Beim ersten matten und trüben Lichtschimmer ließ Ilse die Linke ihres Begleiters los und nahm die wenigen letzten Stufen im Eilschritt. Sie standen vor einer niedrigen eisenbeschlagenen Thür, die sich nur mit einiger Mühe öffnen ließ und widerwillig in ihren Angeln kreischte. In dem halbrunden Turmzimmer, das sie betraten, kam ihnen Clémence entgegen. Sie trat sehr nahe an Ilse heran und musterte sie dreist aus ihren müden, leicht ein wenig zwinkernden Augen.

„Sie gestatten Baroneß,“ sagte Montrose förmlich. „Ihnen meine Tochter Clémence vorzustellen!“

Ilse verneigte sich höflich, Clémence nickte nachlässig. Papa mit seiner übertriebenen Ritterlichkeit! Brauchte man soviel Umstände zu machen mit der Tochter eines heruntergekommenen Adligen, dem man um einen schönen Preis sein abgewirtschaftetes Gut abkaufen wollte; mit einem Mädchen, das in einem so billigen weißen Kleide einherging? Clémence kniff die Augen wieder ein: ja wahrhaftig, es war Battist, nichts weiter! Freilich schön war das Mädchen trotz alledem. Clémence mußte das zugeben. Ihre zudringlichen Augen gingen langsam vom Saum besagten weißen Batistkleides aufwärts bis zu dem schimmernden Haar, das wie ein Goldkrönchen auf dem stolzen Kopf geordnet war.

„Gut, daß Sie mit Papa heraufgekommen sind! Ich bin nämlich ein wenig kurzsichtig, da wollte ich sehen, ob Sie in der Nähe auch so – so überraschend ausschauten wie von oben, von dem kleinen Altan dort. Eh bien, Sie haben die Probe bestanden, Sie können’s wagen, sich in der Nähe betrachten zu lassen – mon Dieu, das werden Sie ja selbst wissen, j'en suis persuadée!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_144.jpg&oldid=- (Version vom 23.6.2023)