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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(9. Fortsetzung.)


9.
Kalkutta, 5. September 18 .. 

 „Mein Herz, mein Liebling!
Endlich einmal wieder festen Boden unter den Füßen, endlich ein wenig Muße, Dir zu schreiben! Denn ein Kapitän hat ernste Pflichten, hat keine Zeit zu Liebesbriefen; selbst seine Gedanken muß er zusammenhalten, damit sie nicht ‚verbotene Wege‘ gehen ... das aber hab’ ich nicht immer gekonnt! Wie die Sehnsucht mich anfiel und packte und festhielt in diesen kurzen sternhellen Nächten, die den Himmel in unbeschreiblicher Pracht und Schönheit flimmern ließen! Wie hätte ich schlafen können, erfüllt von Deinem Bilde, von der Liebe zu Dir, die unwandelbar ist, ob auch alles um mich her sich täglich wandelt: die Menschen, ihre Sprache, ihr Thun und Treiben! Ich brauche nicht einmal ein gewisses Büchlein hervorzuziehen, um mir meine Ilse zu vergegenwärtigen – Zug für Zug weiß ich das holde süße Gesichtchen auswendig. Ich sehe Dein Erröten, Dein Lächeln, Dein sonniges Goldhaar und Deine Augen – Liebling, Du Einzige, Du Meine! Das letzte Wort, das ist doch das schönste: mein! Hunderttausende haben das geflüstert und gestammelt und laut hinausgejubelt in die weite Welt, und hier im fernen Kalkutta, mitten in den Wunderm der Tropenwelt, sitzt einer, der sagt es sich immer wieder vor, wenn er tausendmal an sein deutsches Liebchen denkt: mein!

Bei Euch, wenn Du diesen Brief erhältst, muß es schon Herbst sein. Deutscher Herbst! Ach wenn er mir seinen kühlen frischen Atem hierher senden würde in diese sengende Glut! Ich habe einen starken Körper, eine gestählte Gesundheit, aber einem beständigen Leben in den Tropen hielte ich nicht stand. Du brauchst darum nicht eine Minute lang in Sorge um mich zu sein, Ilse! Ich lebe vorsichtig und mäßig und erfreue mich andauernden Wohlseins. Freilich, nicht jeder von unserem Schiffsvolk kann dasselbe von sich sagen; die Mannschaft macht mir Sorge, der Schiffsarzt ist in scharfer Thätigkeit. An Bord herrscht musterhafte Mannszucht, doch ‚wehe, wenn sie losgelassen‘! Die ewige Klage über den Seemann am Lande ist durchaus nicht unbegründet.

Meinen kurzen Brief aus Lissabon wirst Du erhalten haben. Den ersten lieben Gruß von Dir fand ich in Aden vor. Laß Dir tausendmal dafür danken! Du hättest mich sehen sollen, als ich den Brief empfing! Aeußerlich ruhig und würdevoll, nahm ich ihn in Empfang und senkte ihn in meine Brusttasche; aber dann ging es davon in einem sehr wenig gesetzten Tempo; ich konnte es nicht abwarten, mit mir allein zu sein. Dein Brief, Du, die Heimat – das war alles, was ich dachte!

Und doch – als ich nun las! Meine Ilse, Du bist mir nicht ruhig, nicht glücklich genug. Mißversteh’ mich nicht, mein armes Herz! Ich verlange nicht, daß Du gleichgültig zusiehst, wie Deine arme Mutter leidet, wie Dein Vater sich blutenden Herzens von dem Stück Erde losreißt, das seine Vorfahren seit Jahrhunderten bebaut haben. Liebe die Deinigen, lache und weine mit ihnen, es soll so sein, und mich freut es, daß es so ist, denn eine fühllose Tochter wird schwerlich eine liebevolle hingebende Frau. Aber sprich mir nicht von ‚Haltlosigkeit‘, von ‚dumpfer Angst‘, von ‚unerklärlichem Druck‘, der auf Dir laste, von ‚krankhaftem Gefühl, daß alles, alles gut sein würde, wäre ich nur da, um Dich zu schützen‘! Schützen? Vor wem denn in aller Welt? Wer will Dir etwas anhaben? Solch unklare Redewendungen sind mir ganz neu an Dir! Was mich immer entzückt hat an Dir, das war die gesunde Klarheit Deines Wesens, Dein starkes reines Empfinden. Wie konntest Du lachen, Liebling, so recht aus dem Herzen heraus, jugendlich, kindisch sogar über irgend eine Dummheit, die Du selbst oder ein anderer zuwege gebracht! Ich habe dies Lachen geliebt, selbst wenn ich zum Schein eine ernste Miene aufsetzte und sagte: ‚Aber wie kann man denn so lange über diesen Unsinn lachen?‘ Dann faltetest Du wohl die Händchen über meinem Arm – ich küsse diese Händchen! – sahst mir mit reuevoller Schelmerei in die Augen und sagtest leise: ‚Ja, ich weiß, es ist unrecht von mir, die ich so viel Trauriges daheim erlebe, aber ich kann dem Kummer nicht nachhängen – ich bin zu glücklich durch Dich!‘ Sieh, diesen Gedanken, meine Ilse, den halte Du fest: Dein Glück durch mich, das meine durch Dich – dieses Bewußtsein muß uns hinwegtragen über alles, auch in der Ferme, auch in der Trennung. Denk’ doch des ewig alten, ewig neuen Wunders: ein Herz gehört Dir und nur Dir auf dem weiten Erdenrund, es ist Dein mit jedem Schlage! Und dies Wunder soll uns nicht helfen, Widerwärtigkeiten zu besiegen, Trauriges zu überwinden? Eine schwächliche Art von Liebe, die das nicht könnte, nicht meine Art – und auch die Deine nicht, ich weiß es. Kopf hoch, Ilse! Gewiß fühle auch ich eine heiße unbezwingliche Sehnsucht nach Dir, und die sollst Du ganz erwidern, aber sprich nicht mehr von ‚dumpfer Angst‘, von ‚krankhaftem Empfinden‘, sonst muß ich mich um Deine Gesundheit sorgen!

Ist denn inzwischen der Gutsverkauf, von dem Du mir schriebst und dessen auch Onkel Leupold in seinem Brief erwähnte – ein Prachtstück übrigens, dieser Brief: wohlgezählte achtzehn Zeilen lang! – zustande gekommen? Der Name des Käufers ist mir völlig unbekannt; ich hätte gern gewußt, welchen Eindruck der Mann auf Dich gemacht hat, aber davon schreibst Du mir nichts, und doch geht aus Deinem Brief hervor, daß Du ihn bereits kennengelernt hast. Daß er Deinem Vater die Stelle des Administrators antragen will, scheint mir für den Mann zu sprechen. Hart muß es freilich sein, da gehorchen zu müssen, wo man früher zu befehlen gewohnt war. Allein, wenn der neue Besitzer seinen Vorteil versteht, so wird er nicht viel mit Befehlen kommen, sondern Deinen Vater ruhig gewähren lassen; hat dieser das notwendige Kapital in Händen, so bringt er ohne alle Frage die ‚Perle‘ wieder in die Höhe, das hat mir noch jeder gesagt, der Verständnis für die Sachlage hatte, nicht zuletzt Kapitän Leupold, den wahrlich nicht übergroße Liebe zu seinem Schwager blendet. Onkel Leupold – er ist der Einzige, der von unserer Liebe weiß. Wie lange noch wird er der Einzige sein? Ach, Liebling, wie mich das Geheimnis quält und drückt! Eine Thatsache, die ich stolz aller Welt verkünden möchte, muß ich verschweigen und bemänteln wie eine Schuld! Ich sehe ja ein, daß Du die kranke Mutter, den hartgeprüften Vater schonen mußt, aber ich bäume mich auf unter dem Zwang, den diese Rücksicht uns beiden auferlegt! Frei und offen wie das Element, das ich mir zum Aufenthalt auserkoren, soll mein Leben daliegen, das Stolzeste und Schönste darin Du, die Liebe zu Dir. Verzeih’, ich gelobte Dir, als wir damals bei unserem alten Freunde zum letztenmal einander in den Armen hielten, daß ich Dich nie wieder mit meiner Ungeduld, mit meinem Unmut quälen wollte – ach Lieb, ich quäle mich selbst am ärgsten damit!

Zittere nicht um mich und mein Leben! Einem Seemann hast Du Dich verlobt, eines Seemanns Braut muß stark und tapfer sein. Mein Beruf ist mein Stolz, meine Freude, mit Leib und Seele gehör’ ich ihm an, und ich danke Gott, daß es so ist. Auf der Kommandobrücke stehen und mein gutes Schiff mit Sturm und Wellen kämpfen sehen wie einen tapfern Ringer, es lenken und leiten nach meinem besten Wissen, die volle Verantwortung fühlen für mich und die Vielen, die mein Los teilen – das ist Leben, und Leben ist Kampf! Ob ich Gefahren zu bestehen, Stürmen zu trotzen hatte? Frag’ nicht, mein Herz! Wozu soll ich Dich mit Beschreibungen von Not und Gefahr betrüben? Alles das sollst Du später zu hören bekommen, wenn wir auf immer vereinigt sind. Sitzen wir dann in unserem nordischen Heim, zu Kiel, in einem von diesen hohen schönen Häusern, die ich schon bei meinem letzten Aufenthalt auf diese selige Zukunft hin scharf ins Auge gefaßt habe – im Kamin singt die rote Flamme, und draußen braust der Sturm und ruft mir Erinnerungen wach ... dann sollst Du von allem hören, was ich erlebte, auch von den Gefahren, denen ich entging.

Du schreibst, Du zitterst, wenn Du den Sturm hörst – Kind, was ist das, was Du einen Sturm nennst, gegen den Orkan auf offenem Meer! Ich hab’ oft lachen müssen, wenn ich an Land war und die Leute sagen hörte: heute ist ein solcher Sturm! Sieh zu, wie auf dem Meer der Orkan heulend herankommt und eine Sturzsee um die andere aufwühlt, wie er die Segel gleich Fetzen herunterreißt und die Masten knickt und dann mit einem Ruck die Boote herunterschlägt, auf denen die Mannschaft sich

im Notfall retten soll, wie er das Schiff gleich einem Ball

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_159.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2021)