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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Die Martinsklause.

Roman aus dem 12. Jahrhundert.
Von Ludwig Ganghofer.
(11. Fortsetzung.)


Als in der Schwüle des Nachmittags der Schlaf über Mutter Mahtilts Lider gesunken war, hatte sich Edelrot der Botschaft erinnert, die ihr Henning von seiner Schwester Recka gebracht hatte. Wohl klang in ihrem Ohr die Mahnung, welche Sigenot schon mehr als einmal zu ihr gesprochen. „Thu’ keinen Schritt in Wazemanns Haus!“ Wohl erwachte in ihr, wenn sie der Begegnung mit Henning sich erinnerte, ein dunkles Gefühl der Angst und eine heimlich warnende Stimme. Aber wie hätte sie das Wort der Herrentochter mißachten dürfen und Recka erzürnen, die immer gut und freundlich zu ihr gewesen? Und hatte sie denn der Tochter Wazes nicht noch mehr zu danken als gute Worte und herzliche Blicke? War es nicht Reckas Hand gewesen, die in jener bösen Sturmnacht der Sinkenden die Rettung brachte, als das Wasser schon den letzten Hilfeschrei auf ihren Lippen erstickte? Und jetzt, da Recka nach ihr rief, sollte sie nicht folgen - und wär' es auch nur ein Ruf zu Kurzweil und heiterem Spiel?

„Ich muß zu ihr! Ich muß!“ Edelrot hauchte einen Kuß auf das Haar der schlummernden Mutter und schlüpfte lautlos aus der Halle. Der sonnige Wald umfing sie, und leichten Fußes betrat sie den Steg, der die rauschende Ache überspannte. Hellen Auges blickte sie auf das zitternde Spiel der goldenen Lichter, mit welchen die leuchtenden Strahlen, durch alle Lücken des Gezweiges niedergleitend, den Pfad überwoben; sie sah nur das Licht und nicht die Schatten ihres Weges; ihre kindlich reine Seele hatte keinen Blick für den Abgrund, welcher vor ihren Füßen gähnte.

Bald erreichte sie den breiten Reitweg, der in weitem Bogen über den Berghang zu Wazemanns Haus emporführte. Saftig wucherte das Gras am Saum des Pfades, und überall schimmerten aus dem grünen Rasen die bunten Sterne und Glocken der Waldblumen. Ein Liedlein summend, unter gemächlichem Bergwärtsschreiten, pflückte Edelrot eine Blüte um die andere und wand sie mit dünnem Halm für Recka zum Strauß. Schon war sie auf steiler werdendem Hang bis zur Wende des Pfades emporgestiegen, da klang aus dem Thal herauf der Hall einer rufenden Stimme. Edelrot blieb stehen und lauschte. Wohl meinte sie, die Stimme Wichos zu erkennen, aber die gellenden Rufe des Knechtes verschwammen mit dem Echo, das sie weckten, und klangen durch die Ferne gedämpft wie helles Jauchzen. „Was hat er denn,“ lächelte Rötli, „daß er gar so lustig thut und jauchzt wie ein Hüterbub’?“

Lauschend stand sie, immer wieder klang die hallende, mit dem Echo sich vermischende Stimme, und da schickte sie zur Antwort einen klingenden Jauchzer hinunter ins Thal. Die Rufe des Knechtes verstummten, und leise singend, Blüte um Blüte brechend, wanderte Rötli weiter. Bald tauchte zwischen den Bäumen die graue Burgmauer auf. Die Fallbrücke war niedergelassen, und ein Knecht saß unter dem offenen Thor. Als er das Mädchen kommen sah, eilte er in den Hof zurück; hier stand, von einem Stallburschen am Zügel gehalten, der gesattelte Falbe, und Herr Waze, welchem Henning den Bügel hielt, wollte sich just in den Sattel schwingen.

Henning sah das Zeichen, welches der Knecht ihm machte; er biß sich auf die Lippe, stampfte mit dem Fuß und fragte hastig: „Vater, bist Du heut’ schon in der Falkenkammer gewesen?“

„Nein. Warum?“

„Der Weißfalk, den Du im Frühjahr dem Haunsperger abgehandelt hast, will mir seit gestern nimmer gefallen.“

„Was soll ihm denn fehlen?“ fragte Herr Waze erschrocken, denn er hatte den kostbaren Beizvogel mit schwerem Gold bezahlt; drei Jahre hatten die Bauern zwiefach steuern müssen, bis der rote Haufen beisammen war. „Meinst Du, daß er gichtig wird?“

Henning zuckte die Schultern. „Schau’ ihn halt selber einmal an!“ Herr Waze löste den Fuß aus dem Bügel, und während er im Unterbau des Hauses verschwand, zischelte Henning dem Knechte zu: „Führ’ sie ins Haus und bleib’ bei ihr, bis der Alte draußen ist!“ Er folgte dem Vater.

Als der Knecht das Thor erreichte, kam Edelrot ihm schon entgegen. „Deine Herrin hat mich gerufen,“ sagte sie, den Knecht mit freundlichem Lächeln grüßend.

„Wohl wohl, ich weiß, komm nur herein, ich führ’ Dich!“

Schon setzte sie den Fuß auf die Brücke, da hörte sie hinter sich mit heller Stimme ihren Namen rufen; sie blickte sich um und machte erstaunte Augen, als sie Recka auf ihrem Rappen den Reitweg einhersprengen sah.

„Mach’ weiter, Dirn’, komm herein!“ brummte der Knecht und faßte ihren Arm. Aber sie riß sich los. „Recka! Recka!“ rief sie und eilte der Wazemannstochter entgegen; als diese mit festem Zügelruck das Pferd verhielt, reichte ihr Edelrot die Blumen. „Da bin ich – und schau’, das hab’ ich Dir gebracht!“

Die Blumen schienen bei Recka nicht sonderlichen Wert zu finden; mit lässiger Hand steckte sie das Sträußlein hinter den Gürtel; unwilligen Blickes ruhten ihre Augen auf Edelrot, und mit rauher Stimme fragte sie: „Was suchst Du im Haus meiner Brüder?“

„Aber wie fragst mich denn?“ stotterte Rötli. „Ich komm’ doch, weil Du mich gerufen hast.“

„Ich? Dich gerufen?“

„Freilich! So besinn’ Dich doch! Hast mir ja Botschaft geschickt!“

Reckas Brauen furchten sich. „Botschaft? Durch wen?“

„Durch Deinen Bruder Henning.“

Eine dunkle Röte floß über Reckas Gesicht, und hastig glitt sie aus dem Sattel. „Ja, Rötli, ich besinne mich!“ sagte sie mit bebender Stimme. „Und ich danke Dir, daß Du gekommen bist. Gieb mir Deine Hand, ich will Dich führen!“

„Recka!“ stammelte das Mädchen. „Was ist Dir denn? Deine Hand ist heiß und zittert.“

„Der Zügel hat sie wild gemacht! Frag’ nicht weiter! Wär’ ich minder scharf geritten. es wäre Dir leid gewesen.“ Und das Mädchen an der einen Hand, an der anderen den Rappen führend, überschritt sie die Fallbrücke.

Scheu und verlegen drückte sich der Knecht an die Mauer. Da sah er auf dem Reitweg einen Menschen dem Thor entgegen rennen. mit so wilder Hast, als wäre der Tod hinter ihm. Mit einem leisen Fluch packte der Knecht die Hebel der Kettenwinde und zog die Brücke auf. Kaum war das Thor geschlossen, da erreichte Wicho den gähnenden Graben, keuchend vor Erschöpfung, mit fahlem Gesicht und ausgequollenen Augen. Einen röchelnden Laut noch stieß er aus und streckte die Arme, dann brachen ihm die Knie, und nach Atem ringend, wälzte er sich auf der Erde.

Als hinter Recka und Edelrot das Thor sich schloß, trat Herr Waze mit Henning gerade aus der Falkenkammer. Beim Anblick der Schwester blitzten Hennings Augen zornig auf, und ein starres Lächeln verzerrte seine Lippen.

„Ich weiß nicht, was Du an dem Vogel findest,“ brummte Herr Waze, welcher dem Burgthor den Rücken kehrte, „er hat einen frischen Blick und kröpft, als hätt’ er ein Jahr lang gehungert.“ Er hörte den Hufschlag des Rappen, drehte das Gesicht und riß die Augen auf. „Du. Recka? Was führt Dich denn heut’ schon heim? Und was soll die Dirn’ an Deiner Hand?“

Recka warf dem Knecht die Zügel des Pferdes zu, und ohne den Vater zu grüßen, schritt sie an ihm vorüber und blieb vor ihrem Bruder stehen, welcher, die Augen einkneifend und den Schnurrbart zwirbelnd, langsam zurücktrat.

„Henning!“ Reckas Stimme klang hart, und drohend funkelten ihre schönen Augen. „Ich danke Dir, daß Du meine Botschaft so treulich ausgerichtet! Sieh her, das Kind ist gekommen ... ich halt’ es an meiner Hand, ich führ’ es in meine Kammer! Und Dir sag’ ich, was eingeht unter Dach, ist heilig!“ Tief atmend schlang sie den Arm um Edelrots Schulter und flüsterte: „Komm, Rötli, komm zu mir!“ Mit scheuen Augen blickte Edelrot zu Recka empor und wieder im Hof umher, auf Herrn Waze und auf Henning; sie wußte kaum, daß Recka sie zur Treppe führte und hinauf zur Halle; alles, was mit ihr geschah, war ihr wie ein beängstigender unbegreiflicher Traum.

Mit verblüfftem Gesicht sah Herr Waze den beiden Mädchen nach; dann wandte er langsam die Augen auf Henning. „He, Du! Mir scheint jetzt weiß ich, weshalb ich hätt’ reiten sollen!“ Henning zuckte die Achseln und wollte gehen. „Bleib’, sag’ ich!“ schrie Herr Waze, und seine Stirn wurde dunkelrot vor Aerger. „Du bist mir ein Feiner, das muß ich sagen! Du bist ja einer, vor dem mir selber schon bald grausen könnt’!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_182.jpg&oldid=- (Version vom 22.5.2020)