Seite:Die Gartenlaube (1894) 240.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Schutz zu gönnen, wenigstens bis auf weiteres, während die Herbstjagd gänzlich unbehindert und frei bleiben könnte. Erst dann, wenn wir keine Schnepfen zur Brutzeit erlegen, keine Kibitzeier aus den Nestern rauben, keine Lerchen und keine Drosseln (Krammetsvögel) mehr verspeisen, erst dann können wir mit vollem Recht verlangen, daß in den Ländern am Mittelmeer auch nicht mehr unsere Nachtigallen, Rotkehlchen, Schwalben u. a. zu Hunderttausenden alljährlich im Frühjahr und Herbst weggefangen und verzehrt werden. Dr. Karl Ruß.     

„Ausgeblasene“ Kinder. Nach alter Sitte zieht der Berliner am Sonntagnachmittag mit Kind und Kegel aus, um in irgend einem Biergarten seine Erholung zu suchen. Trotz aller elterlicher Warnungen liebt es das kleine Volk, der unmittelbaren Aufsicht zu entwischen, um irgend einem reizvolleren Vergnügen nachzuspüren, als es darin liegt, Vater und Mutter beim Austrinken ihrer Biergläser zuzuschauen. Da lockt ein Hausierer als moderner Rattenfänger von Hameln mit allerlei wunderbarem Tand, dort springen an einer Schießbude geheimnisvolle Thore auf, große Glaskugeln blitzen in der Sonne, kurz, es ist des Neuen und Entzückenden zu viel, als daß ein Kinderherz widerstehen könnte. Weiter strebt es und weiter und „taumelt von Begierde zum Genuß“, bis eines schönen Augenblicks doch das kleine Gewissen schlägt und zur Heimkehr an den elterlichen Stammsitz mahnt. Aber o weh! Grausame Ernüchterung! Ringsum viele Tische mit vielen vielen Menschen, aber lauter fremde Gesichter, ein brausendes Meer ohne Weg und Steg! Dem armen Flüchtling wird wind und weh, und in jammerwürdigem Geheul macht er seinem gepreßten Herzen Luft. Doch der Retter naht. Irgend ein in solchen Zwischenfällen erfahrener Stammgast nimmt den verirrten Mitbürger väterlich auf seine starken Arme und trägt ihn sicher dahin, wo die Musik spielt. Ein schmetterndes Signal – aller Augen wenden sich der Musiktribüne zu: auf den Schranken steht, von einem kräftigen Hoboisten der Menge präsentiert, der heulende Findling, und nicht lange dauert es, da windet sich eine Gestalt mit flatternden Hutbändern eilig durch die Menge – es ist die Mutter, die sich lange schon um den ungetreuen Liebling geängstigt. Mit Thränen in den Augen zieht sie den auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege wiedergefundenen Sohn an ihr Mutterherz: Ob ihn freilich der Vater mit ebenso „zärtlichem Liebesblick“ empfangen wird, das ist nicht so ganz sicher; jedenfalls giebt es sehr viele Väter, deren Erziehungsgrundsätzen dies unbedingt zuwiderlaufen würde.

„Ausgeblasene“ Kinder.
Originalzeichnung von E. Thiel.


Vom Werte der Seide. „Was das Gold unter den Metallen, der Diamant unter den Edelsteinen, das ist die Seide unter den Textilstoffen: der kostbarste, weil der schönste, glänzendste, widerstandsfähigste. Deshalb ist auch die Seide die Königin unter den Fasern. Die Seide bildet ein Glied in jener Trias, welche den begehrtesten Schmuck der Frauen aller Stände und Weltteile abgiebt.“ So rühmt ein Sachverständiger, Professor W. F. Exner, den kostbaren Stoff, den uns der Seidenwurm schenkt. Aber wie alles in der Welt, so schwankt auch die Seide in ihrem Werte. Das wissen namentlich die älteren von unseren Leserinnen aus eigener Erfahrung, und es wird für sie gewiß nicht ohne Interesse sein, die Gestaltung der Seidenpreise im Laufe unseres Jahrhunderts kennenzulernen. Franz Bujatti in Wien, der Verfasser der Schrift „Die Geschichte der Seidenindustrie Oesterreichs“, die als vierte unter den Abhandlungen des „Museums für Geschichte der österreichischen Arbeit“ soeben erschienen ist, hat darin eine sehr lehrreiche Zusammenstellung der Seidenpreise seit dem Jahre 1800 bis zum Jahre 1892 gegeben. Es wurden dabei als Maßstab die Durchschnittspreise der von den besten Cocons gewonnenen Organsinseide in „sublimer Qualität“ gewählt. Ein Kilogramm dieser Seide kostete im Jahre 1800 im Durchschnitt 45 Mark: im Laufe des ersten Jahrzehntes stieg der Preis bis auf 60 Mark und schwankte, einige wenige Ausnahmen abgerechnet, zwischen den beiden Grenzen. Dann kam eine Zeit, wo der Seidenwert durch verschiedene Ereignisse stark beeinflußt wurde. Die Seide ist ein Luxusartikel und wird als solcher in unruhigen und kriegerischen Zeiten weniger begehrt, was ein Sinken des Preises zur Folge hat. So sehen wir auch, daß die Revolutionsjahre 1830 und 1848 die niedrigsten Seidenpreise von 40 Mark mit sich brachten. Die Krisis wurde aber bald überwunden, und schon im Jahre 1853 betrug der Preis 73 Mark.

Da kam 1854 der Krimkrieg und die Preise sanken wieder auf 50 Mark. Bald darauf, im Jahre 1856, trat eine Katastrophe in der Seidenerzeugung ein, die Raupen wurden von einer epidemischen Krankheit, der Pebrine, ergriffen, die Seide wurde seltener und infolgedessen teurer. 1857 kostete ein Kilo Organsin bereits 88 bis 90 Mark, auch in den folgenden Jahren mehr als 80 Mark, und der Krieg in Amerika vermochte diesen Satz nur bis auf 60 Mark herabzudrücken. Nach dem Friedensschluß im Jahr 1865 wurden aber bereits 94 Mark notiert, und auch im Kriegsjahr 1866 gingen die Preise nur bis 80 Mark hinunter. Im Jahre 1868 aber wurde der höchste Preis dieses Jahrhunderts erreicht. Das Kilo Organsin kostete 112 Mark, fast dreimal soviel wie in den Jahren 1830 und 1848.

Bald jedoch wurden die Preise durch den deutsch-französischen Krieg auf 75 und 72 Mark herabgedrückt. Im Jahre 1872 begannen sie zwar wieder zu steigen, aber sie konnten die frühere Höhe nicht mehr erreichen, denn inzwischen war es dem berühmten Bakteriologen Pasteur gelungen, Mittel zur Bekämpfung der Seidenraupenkrankheit zu entdecken, die alsbald die allgemeinste Verbreitung unter den Seidezüchtern fanden. So bezahlte man im Jahre 1875 nicht mehr als 56 Mark. Im Jahre 1876 stieg der Marktwert noch einmal infolge geringer Ernten in Italien auf 96 Mark, aber von da an wurde ein stetiges Fallen verzeichnet. Im Jahre 1885 wurde mit 37 Mark der niedrigste Preis des Jahrhunderts erzielt und von da an schwankten die Preise bis auf die Gegenwart zwischen 40 und 50 Mark. Nach vielen Wandlungen kostet die Seide am Ende des 19. Jahrhunderts annähernd ebensoviel in Mark ausgedrückt wie am Anfang des Jahrhunderts, aber im Laufe der neunzig Jahre ist der Wert des Geldes ein geringerer geworden, und so können wir mit Recht sagen, daß die Seide billiger geworden ist. *      

Belauschte Werbung. (Zu dem Bilde S. 232 und 233.) Soweit wäre alles in Ordnung bei den beiden, die in der alten Schwarzwälderstube am Fenster sitzen – ihre Hände haben sich gefunden wie schon längst ihre Herzen, die Werbung ist geglückt, und die hübsche Braut wäre gern bereit, mit einem Kuß die Sache „richtig zu machen“. Aber die Geschwister! Ihr ist der Eifer verdächtig, mit dem sich die kleine Schwester ins Stricken vertieft, was sonst gar nicht ihre Sache ist, die Versunkenheit, mit der sich der Bruder der alten Bilderbibel widmet. Offenbar sehen sich die Plagegeister als die berechtigten Vertreter der Familie an, die an Stelle der abwesenden Eltern entschieden dabei sein müssen, denn auch durch die verlockendsten Vorschläge haben sie sich nicht bewegen lassen, zu verschwinden. Da heißt es also, vorsichtig sein vor diesen Lauschern und auf etwas so Gewagtes wie einen Kuß verzichten. Es giebt aber ein tröstliches Sprichwort für solche Fälle: „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben!“

Maiglöckchen. (Zu unserer Kunstbeilage.) Ein Maiglöckchen trägt sie im Gürtel, die holdselige Mädchengestalt, die des Künstlers Pinsel uns vor Augen zaubert. Aber eine Frühlingsblüte ist auch sie selbst, so frisch und rein und duftig wie die zarten Glöckchen des Wonnemonds, ein Maiglöckchen ist sie selbst, dazu geschaffen, Lust und Entzücken rings um sich zu verbreiten. Die Blume an der Brust ist ihr Schmuck und Sinnbild zugleich: sie erhöht den Reiz ihrer Schönheit und giebt zugleich dem Geiste die Richtung auf eine anmutige Deutung. Künstlerischer und symbolischer Zweck vereinigen sich so zu einem harmonischen Ganzen.


manicula 0 Hierzu die farbige Kunstbeilage IV: Maiglöckchen. Von Paul Heydel.

Inhalt:


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. 0Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 0Druck von A. Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 240. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_240.jpg&oldid=- (Version vom 25.6.2023)