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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

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Wiener Bettlerwesen.

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.

An der Kirchenthüre.

Das Leben einer Großstadt ist ebenso reich an Stürmen und Schiffbrüchen wie der wildbewegte Ocean. Das stolze Lebensschiff des Reichbegüterten ist seinen unberechenbaren Launen ebenso ausgesetzt wie die gebrechliche Barke des Armen, der sich täglich aufs neue dem trügerischen Elemente anvertraut, um den Bedarf des Tages zu erbeuten. Tausend scheinbar festgegründete Existenzen werden von seinem Wirbel erfaßt und in die Tiefe gezogen, tausend hoffnungsfreudige und kampfesmutige Seelen stranden an seinen tückischen Klippen, und während die Unglücklichen einen aussichtslosen Kampf mit den Wellen kämpfen, balgen sich die am Ufer Stehenden, statt ihnen hilfreiche Hand zu bieten, um das angeschwemmte Strandgut.

Zu oft wiederholt sich dies klägliche Schauspiel, als daß es einen mächtigeren Eindruck auf diejenigen ausübte, die vom Schicksal verschont geblieben sind. Der jähe Schicksalswechsel, das Ringen des Opfers mit dem ungewohnten Element, das Aufbrauchen der letzten Mittel, das Anklammern an letzte Hoffnungen und der unaufhaltsame Sturz in die Tiefe – wie oft erlebt man es in nächster Nähe, wie oft ist es geschildert worden!

Der Dämon Geld, der dem Begüterten in so williger, höfischer Weise gehorcht, zeigt nach dem Sturze plötzlich seine abschreckende, grauenerregende Gestalt. Die Tausender und Hunderter, welche ihren Herrn bisher so weltmännisch fein bedient, die alle seine Wünsche stumm und widerspruchslos erfüllt haben, sind plötzlich verschwunden. An ihrer Stelle haust jetzt ein widerwärtiger Tyrann, ein brutaler Geselle – der Kreuzer. So ohnmächtig sein Können ist, so stolz und unerbittlich ist er im Gewähren[.] Anfangs wird er noch verachtet, mit Füßen getreten; aber seine Herrschaft wächst mit jedem Tage. Bald ist er der einzige Herr und füllt die Gedanken und Sorgen seines Sklaven aus. Er fordert in seinem Dienste Schweiß, Mühe, Entsagung und Kummer und gewährt dafür ein dürftiges Dasein in Schmutz, Elend und Siechtum. Er ist der Welttyrann, der unumschränkte Herrscher über die ungezählten Millionen, die ihm in harter Fron dienen, ihm huldigen, ihn halten wollen; aber immer wieder entschwindet er ihren Händen, flieht aus den armseligen Hütten und geht als befruchtender Regen über den Palästen der Reichen nieder. Hier und da greift er einen heraus aus der Menge und überschüttet ihn mit seinen Gaben. Je willkürlicher, grausamer und launenhafter er seine Herrschaft übt, desto gefesteter wird sein Ansehen, desto emsiger buhlt man um seine Gunst.

Auf der untersten Stufe seines hierarchischen Gebäudes hat der Götze eine Pariakaste geschaffen, den Bettler.

In jeder Weltstadt hat das Bettlerwesen infolge der Charaktereigenschaften ihrer Bewohner, des Erwerbssinnes oder der Schlaffheit der unteren Volksschichten, des Wohlthätigkeitstriebes der Begüterten, der staatlichen Fürsorge und der öffentlichen Einrichtungen ein eigenartiges Gepräge. Der starrende Schmutz, das herzzerreißende Elend, das uns in London und in den großen Städten Italiens auf der Straße entgegentritt, ist allerdings in Wien ebenso wenig zu sehen wie in den großen Städten Deutschlands. Die öffentliche Mildthätigkeit ist groß; die Gemeinde giebt jährlich Millionen aus, um dem Elend zu steuern, den Siechen ein Obdach zu geben, die Waisen zu versorgen. Der Verein gegen Verarmung und Bettelei, zahlreiche Asyle, Siechenhäuser, Rekonvalescentenheime, Volksküchen, Schlafstätten für Obdachlose, Wärmestuben, Wohlthätigkeitsvereine zur Bekleidung armer Kinder und eine Unzahl privater Wohlthäter treten wirksam gegen Elend und Not in die Schranken. Es ist ein stattliches Samariterheer, das jahraus, jahrein den Kampf gegen den grimmigen Feind mit mehr oder weniger Erfolg führt. Und dennoch reichen die Schutzdämme nicht aus, um die überall hereinflutende Not mit vollem Erfolg zu bekämpfen. Gegen das Ueberhandnehmen des Straßenbettels tritt das Vagabundengesetz mit unnachsichtlicher Strenge auf. Hierdurch wird der Bevölkerung viel arbeitsscheues Gesindel, das gelegentlich auch nach unerlaubtem Erwerb ausspäht, vom Halse geschafft; anderseits erleben wir aber im Gerichtssaale oft wahrhaft erschütternde, das menschliche Elend und die Ohnmacht der Gesellschaft grell beleuchtende Scenen.

Die Blinde.

Trotz der ungeheuren Summen, welche die Armenpflege der Stadt Wien alljährlich verschlingt, und trotz der werkthätigen Hilfe der Bevölkerung wird der Wert dieser Hilfeleistungen so lange zweifelhaft sein, bis nicht eine streng gegliederte Organisation dafür sorgt, daß das Geld in die richtigen Hände gelangt; denn neben der wirklichen Dürftigkeit, dem hilfeheischenden, herzbewegenden Jammer wuchert eine weitverzweigte Bettlerindustrie mit großer Dreistigkeit und mit einem Erfolge, der nur in der Gutmütigkeit der Bevölkerung seine Erklärung findet.

Das hilfeflehende Weib, das, abgerissen und barfuß, vor der Kirchenthür steht, die blinde Frau, die an der Brust eine Tafel trägt mit der Erklärung „Blind von Geburt“, der krüppelhafte Arbeiter, dem die Fabrikmaschine ein Glied fortgerissen, das blasse Weib, das eben aus dem Spital entlassen wurde, der Taubstumme, der mit flehender Gebärde unartikulierte Töne ausstößt, das sind Typen, welche eine jede Großstadt aufweist und deren Würdigkeit wohl selten angezweifelt wird.

Mehr Vorsicht und eine schärfere Unterscheidung ist bei den sogenannten „Schnallendruckern“ („Schnalle“ ist ein in Oesterreich vielfach gebrauchter Ausdruck für „Thürklinke“) zu üben, die in den Häusern von Thüre zu Thüre wandern und unter den verschiedensten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 248. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_248.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)