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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

können, oder der eine Schmerz fallt auf den anderen hin wie Schnee auf Schnee im langen Winter. Nein, nein, Bruder – das muß was anders sein. Aber wart’ nur, wir kommen schon dahinter, wir Zwei! Und derweil mußt halt Geduld haben, und wenn Du Honig begehrest von ihnen und sie bieten Dir Salz, da mußt halt schlucken! – Aber gelt, mein guter Bruder, gelt, jetzt thust mir doch die Lieb’ und schaust mein Kirchl an?“

Eberweiu stand auf. „Führe mich!“ sagte er, mit herzlichem Blick an dem Antlitz des Greises hängend. Sie traten in die kühle Halle des Kirchleins. Plumpe Betstühle füllten den schmucklosen Raum, und armselige Geräte zierten den steinernen Altar; aber jedes Stücklein streichelte der Greis mit zärtlicher Hand, von jedem Stücklein wußte er eine lange Geschichte zu erzählen. Die Betstühle hatte er selbst gezimmert, das steinerne Taufbecken mit eigener Hand gemeißelt. Kummervoll aber blickten seine Augen, als er aus einer Wandnische einen hölzernen Buchdeckel mit eisernen Schließen hervornahm … nur einige Fetzen beschriebenen Pergaments umschloß der Deckel noch. „Schau’ nur, Bruder, schau’ … das ist einmal mein heilig Meßbuch gewesen, aber die Mäus’ sind mir drüber gekommen. Ja, ja, die Mäus’, wenn die nur nagen können! Die haben nicht einmal Scheu vor dem Heiligsten! Ueber mein Evangelienbuch im Haus drüben sind sie mir auch schon gekommen!“

„Aber wie kannst Du ohne Buch die Messe lesen?“ fragte Eberwein erschrocken.

„Hab’ sie doch vierzig Jahr’ lang mit dem Buch gelesen!“ lächelte Hiltischalk. „Weißt, da ist schon ’was hängen geblieben in meinem Gemerk, wohl wohl … und wenn’s einmal auslaßt, in Gottesnamen, so red’ ich halt mit meinem lieben Herrn, wie’s das Herz mir eingiebt.“ Er blickte in Eberweins Augen und fragte zögernd: „Das wird doch wohl kein Unrecht sein, gelt?“

„Nein, Bruder Hiltischalk!“ Tiefe Rührung sprach aus Eberweins Worten. „Doch wenn der lange Winter kommt, dann will ich Dir ein neues Meßbuch schreiben.“ Der Greis nahm dieses Versprechen auf wie die Verheißung reicher Schätze.

Diesem ersten Schreck, den Eberweiu überstanden, folgte rasch ein zweiter: seit Jahren las Hiltischalk die Messe nicht nur ohne Buch, auch ohne Wein. In früheren Zeiten hatte wohl jahraus und ein das gefüllte Fäßlein in der Kellergrube gelegen. Eines Tages aber waren Wazemanns Knechte im Pfarrhof eingekehrt, durstig von der Jagd … sie hatten den Wein gesucht und hatten ihn gefunden. Die Bauern steuerten dem Kirchlein Honig, Butter und Käse, trugen die frommen Gaben nach Hall und tauschten dafür ein neues Fäßlein ein … und bald ein drittes und viertes. Doch wo der Wein auch immer verborgen wurde – Wazemanns Knechte fanden ihn wie die Mäuse das Meßbuch.

„Und schau’, mein lieber Bruder, da hab’ ich mir sagen müssen: wie darf ich denn alleweil den Schweiß meiner armen Leut’ in die schiechen Gurgeln rinnen lassen? Die Mess’ aber hab’ ich doch lesen müssen. So hab’ ich halt gemeint, es geht mit Wasser auch. Und schau’, der, welcher zu Kana das Wasser in Wein verwandelt hat, der hat sich das Wasser gern gefallen lassen, wohl wohl, und hat’s gewandelt … wenn ich den Kelch gehoben hab’ und hab’ gebetet und hab’ getrunken, da hat’s mir nie wie Wasser geschmeckt, alleweil wie der rechte heilige Himmelstrank!“ Lächelnd blickte der Greis zum Altarkreuz auf und nickte dem Bilde zu wie einem guten Freund, der sich bewährt in aller Not.

„Selig, die festen Glaubens sind!“ flüsterte Eberwein. Er legte die Hand auf die Schulter des Greises. „Aber Du sollst nicht weiter Gottes Allmacht auf die Probe stellen. Ich werde Dir Meßwein senden und will dafür sorgen, daß böse Hände nicht wieder rühren an das Gut Deiner Kirche.“

Da rief eine Stimme den Namen des Priesters. „Das ist unsere Mätzel,“ sagte Hiltischalk, „ich mein’, sie rufet zum Tisch.“ Im Thor erschien eine Magd von abschreckender Häßlichkeit, mit dem Ausdruck des Blödsinns in den rotgeränderten Augen. „Geh’ nur, meine gute Mätzel,“ rief der Greis ihr zu, „wir kommen schon!“ Und als die Magd verschwunden war, sagte er: „Thu’ Dich an ihr nicht scheuen, lieber Bruder … weißt, einwendig ist sie sauber und lieblich! Ist eine fromme treue Magd, wohl wohl! Ihre Mutter ist tot … die hat gesennet, und wer ihr Vater ist, weiß niemand. Keiner im Thal hat sie nehmen mögen, so haben halt wir sie genommen und haben’s nie bereut! Wohl wohl, die Mätzel ist eine gute brave Magd.“

Langsam gingen sie dem Hause zu; Eberweiu hatte keinen Blick für den Weg und strauchelte auf der Schwelle. Mit beiden Armen stützte ihn der Greis und meinte lächelnd: „Ach, Du mein lieber Bruder, Du wirst mir doch kein Unheil tragen in meine Stub’!“

Da schüttelte Eberwein den Kopf. „Welches Haus noch wäre sicher wenn nicht das Deine?“

Sie traten in die Herdstube; das war ein kleiner Raum, nicht besser ausgestattet als die Stube eines Bauern, aber die Armut, welche hier wohnte, hatte ein lächelndes Antlitz, und der mit gebleichtem Hanftuch überdeckte Holztisch schien dem Gaste sagen zu wollen: „Komm, ich gebe, was ich habe.“ Ueber dem Tisch im Winkel hing ein großes Holzkreuz, geschmückt mit den letzten Blumen des Herbstes, auf einem Wandgesimse stand der zinnerne Kelch zwischen anderem Altargerät, ein frisch gewaschenes Chorhemd hing an hölzernem Nagel und rührte sich im leisen Windzug, der durch die unverwahrten Fensterluken in die Stube strich.

(Fortsetzung folgt.)




Otto Roquette.
Ein Gedenkblatt zu seinem 70. Geburtstag.


Siebzig Jahre! Wer die mit frischem Geist erlebt, der kann manches erzählen von innerem und äußerem Erfahren, vom Wandel der Zeiten, und zumal, wenn er ein Dichter ist mit tiefem Gefühl, mit aufgeschlossenem Sinn für eigene und fremde Entwicklung. So sind denn die Erinnerungen, die der Sänger von „Waldmeisters Brautfahrt“ zu seinem 70. Geburtstag am 19. April unter dem Titel „Siebzig Jahre“ veröffentlicht hat, eine willkommene Gabe, die uns Wesen und Leben des Dichters schlicht und herzlich nahe bringt. Die Werke, die den Namen Otto Roquettes seit nun über vier Jahrzehnten dem deutschen Volke stets aufs neue lieb gemacht haben, sind einem langen Wanderleben entsprossen, das spät erst seinen Ruhepunkt fand, und Roquette selbst führt einmal von sich das Wort an, er habe keine Heimat, nur ein Vaterland. Aber wenn er viel entbehren mußte an behaglichem Sicheinleben und Verweilen, wie es die Heimat bietet, auf der anderen Seite hat er doch fast noch mehr gewonnen an Kenntnis der verschiedensten Menschen und Verhältnisse, und wer so im stillen Winkel sitzen muß, während die Welt und die Menschen draußen ihren großen Weg gehen, den könnte beinah etwas wie Neid anwandeln diesem Dichterdasein gegenüber, dem von überall her reiche Anregung zuströmte.

Die Familie, der Roquette angehört, stammt aus dem südlichen Frankreich, von wo sie durch die Hugenottenverfolgungen Ludwigs XIV., des „allerchristlichsten“ Königs, am Ende des siebzehnten Jahrhunderts vertrieben wurde. Die Nachkommen fanden zu Strasburg in der Uckermark und später in Frankfurt a. d. O. eine neue Stätte für ihr bescheidenes Glück und wandelten sich von Geschlecht zu Geschlecht immer mehr zu einer deutschen Familie um. Roquettes Vater vollends, der 1815 als preußischer Husar in Paris einzog, ließ die französischen Ueberlieferungen der Familie ganz auf sich beruhen. Es ist ein gewinnendes Bild, das uns der Sohn von diesem Vater entwirft. Von ungewöhnlichen Kenntnissen, tüchtig in seinem Beruf als Jurist, mannhaft und lebensfroh – so tritt er uns entgegen, wie geschaffen dazu, einem Sohn, der als Mensch und Dichter seine eigenen Pfade suchte, ein treuer Erzieher und ein vertrauter Freund zu sein. Auch die Mutter Roquettes stammte von französischen Flüchtlingen ab, und wie auch sie fest eingewurzelt war auf deutschem Boden, so verband sie muntere graziöse Laune und charaktervolle Innigkeit als das Erbteil der alten und der neuen Heimat. Ihre poetische Begabung, die sie bei allerhand geselligen Festen mit nie versiegendem Humor bethätigte, hat sie dem ältesten Sohne vererbt, der am 19. April 1824 zu Krotoschin in der Provinz Posen geboren wurde.

Nicht lange dauerte die Zeit, die der Landgerichtsrat Roquette mit den Seinen an diesem damaligen Grenzpunkt deutscher Kultur zubrachte, wo nur diejenigen geistigen Genüsse zu haben waren, die sich die Beamten selbst zu schaffen wußten. Nach kurzer Zwischenstation in Gnesen fand endlich die Familie in Bromberg ein dauerndes Bleiben und bald wurde sie der Mittelpunkt eines gesellig bewegten und geistig reichen Kreises, aus dem der heranwachsende älteste Sohn nur zu bald gerissen wurde. Das Bromberger Gymnasium befand sich damals in einem Zustand völliger Unordnung, unter dem Otto Roquette doppelt schwer litt, da er eine zarte Gesundheit hatte, von welcher der Hausarzt einmal meinte: „Es ist erstaunlich, daß der Junge immer die seltensten und gelehrtesten Krankheiten bekommt, gegen die man an ihm selbst erst die Studien zu machen hat.“ Natürlich war der letztere Umstand für Heilung und Genesung nicht eben förderlich. So beschlossen die Eltern, ihren ältesten Sohn zu dem Großvater Roquette, einem angesehenen Geistlichen, nach Frankfurt a. d. O. zu schicken. Dort blieb Otto, bis er die Universität bezog. Es war ein genügsames Stillleben, das er in dem alten Pfarrhause

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_267.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2023)