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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Das Urbild eines Fabelwesens.

Polyp und Seeschlange.

In alten Sagen und Dichtungen, auch in alten naturwissenschaftlichen Beschreibungen begegnet uns der Polyp als ein schlimmes Ungeheuer, und bei weniger geschulten Geistern ist noch heute das Wort „Polyp“ mit rätselhaften Begriffen verbunden. Polypen tummeln sich noch hier und dort gar abenteuerlich in der volkstümlichen Phantasie. Mit jenen Fabelwesen hat zunächst der einfache Polyp, der in unseren Teichen und Gräben lebt, nichts zu thun; ihn kennt wohl ein jeder, wenn nicht vom Augenschein, so doch vom Hörensagen, denn er ist ja das Wundertier, das man in Stücke zerhacken kann, wobei aus jedem Stück ein neuer Polyp wächst. Unser Süßwasserpolyp ist in der That ein höchst merkwürdiges Geschöpf, das von Wasserpflanzen, namentlich Wasserlinsen lebt und leicht in einem einfachen Süßwasseraquarium beobachtet werden kann. Sein Körper ist schlauchförmig, etwa 2 cm groß, von grüner Farbe. Mit dem scheibenartig abgeplatteten Ende sitzt er an einem Blatte fest, an dem freien Ende befindet sich der Mund, von einem Kranze von Fühlfäden umgeben. Der Körper des Polypen kann alle möglichen Formen annehmen, bald rollt er sich zu einer Kugel zusammen, bald dehnt er sich zu einem Faden aus. Der Polyp ist sehr einfach organisiert, er hat nur eine Höhle im Körper, welche mit ihrer inneren Wand, dem „Entoderm“, die Nahrung verdaut und wahrscheinlicherweise auch atmet. Die äußere Wand besitzt aber noch die sogenannten Nesselorgane, kleine Kapseln, in denen an langen Spiralfedern mit Gift gefüllte Bläschen liegen. Der Polyp wendet sie an, um andere Tiere, die er erbeuten will, zu lähmen. Er ist auch ein gefräßiges Tier, und mitunter geschieht es, daß ein Polyp den anderen, mit dem er zugleich ein Beutestück erfaßt hat, verschlingt und buchstäblich aussaugt.

Kampf zwischen Krake und Hummer.
Nach einer Originalzeichnung von G. Mützel.

Alle diese Eigenschaften reichen jedoch nicht hin, um den Polypen zu einem gefürchteten Ungeheuer zu machen, und selbst wenn wir das Meer aufsuchen, so müssen wir die Polypen eher bewundern, denn für schreckliche Wesen ansehen, sie arbeiten dort an jenen Wunderbauten, die unter dem Namen „Korallen“ bekannt sind.

So ist wohl der Polyp der Alten nur ein Phantasiegebilde? Durchaus nicht! Im Laufe der Jahrhunderte ist nur, wenn man so sagen darf, den echten Polypen der Name gestohlen und den soeben erwähnten Hohltierchen gegeben worden. Dies geschah im Anfang vorigen Jahrhunderts durch den berühmten Forscher Réaumur. Die Alten verstanden unter den Polypen ganz andere Tiere. „Polypus“, d. h. wörtlich „Vielfuß“, nannte Aristoteles das Seetier, welches uns heute unter dem Namen „Tintenfisch“ bekannt ist. Diese Mollusken, Kraken und Sepien, sind in der That so grausame Bestien, daß man bei ihrer näheren Betrachtung die Volksphantasie, die den Polypen mit so vielen unheimlichen Zügen ausgestattet hat, gern entschuldigen wird. Die Kraken erscheinen hier als jene wunderbaren Inseln, von denen schon in der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 417. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_417.jpg&oldid=- (Version vom 27.6.2023)