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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Führung in Toulon unter Segel und holten Murat von einem einsamen Punkte der Küste ab. Sie steuerten nach dem korsischen Hafen Bastia, der von Toulon in der Luftlinie 300 Kilometer entfernt ist. Gegen Morgen erhob sich ein mit Gewitter verbundener Sturm, man kam nur mit Mühe und bei starkem Kreuzen von der Stelle, die Wellen schlugen in das Schiff, und Murat, der bei der Bedienung des Segelwerks nicht mithelfen konnte, mußte stundenlang das eingedrungene Wasser mit seinem Hute ausschöpfen. Alle an Bord genommenen Lebensmittel mit Ausnahme von einigen Flaschen Wein und einigen Tafeln Chokolade wurden durch das Seewasser unbrauchbar. Nach vierundzwanzigstündiger Fahrt entstand im Boden des Fahrzeugs ein Leck, das man vorläufig mit allen vorhandenen Taschentüchern noch verstopfen konnte, aber wenn nicht binnen einer gemessenen Zahl von Stunden Hilfe kam, so war der Untergang unvermeidlich. Nachdem die zweite Nacht vergangen war, begegnete das Boot einem Handelsschiff, das nach Toulon segelte. Murat rief den Kapitän an und versprach ihm eine Belohnung, wenn er ihn und seine Gefährten aufnehmen und nach Korsika bringen wolle. Der Kapitän antwortete mit einer Wendung seines Schiffes, welche geeignet war, das Boot in den Grund zu bohren. Donadieu, der das Steuer hielt, wußte eben noch zu rechter Zeit auszubiegen. Das Verhalten des Handelsschiffskapitäns ließ nur die Erklärung zu, daß er die vier Männer in dem kleinen Boot für Seeräuber hielt, wahrscheinlich deshalb, weil Murat Pistolen im Gürtel trug. Ergrimmt drückte Murat mit dem Rufe „Verräter“ eine Pistole auf den Kapitän ab, aber der Schnß versagte, da das Pulver feucht geworden war.

Glücklicher verlief die Begegnung mit einem zwischen Toulon und Bastia fahrenden, jetzt nach Bastia segelnden französischen Postschiff. Von diesem wurden die vier Insassen des Bootes, die bereits bis an die Knie im Wasser standen, nach sechsunddreißigstündiger Fahrt aufgenommen. Donadieu verließ das Boot zuletzt, und unmittelbar darauf versank es in den Wellen.

An Bord des Postschiffes befanden sich mehrere angesehene Männer, die nach Korsika flüchteten, weil sie als frühere Anhänger und Beamte des Kaiserreichs in den französischen Südprovinzen ihres Lebens nicht mehr sicher waren; auch ein Mameluck mit Namen Othello, der unter Murat gedient hatte, war auf dem Schiffe. Sie alle begrüßten Murat als König, unter lauten Kundgebungen ihrer Freude, ihn wiederzusehen. Das Schiff landete am 25. August in Bastia, und die drei französischen Seeoffiziere kehrten in der Stille nach Toulon zurück. Murat nahm beim Landen den Namen eines Grafen von Campo Melle an, aber es wäre ein vergebliches Bemühen gewesen, das Inkognito zu wahren, die Nachricht, daß er angekommen sei, verbreitete sich mit Windeseile über die Insel. Die französischen Bourbonen, die nun wieder über Korsika herrschten, waren bei den Korsen wenig beliebt, und so hatten sowohl Anhänger des Kaiserreichs von Frankreich aus als besonders Parteigänger Murats von Neapel aus gerade diese Insel als Zufluchtsstätte ausersehen, wo sie vor den Verfolgungen der neuen heimischen Regierungen verhältnismäßig besser geschützt waren als irgendwo sonst in Frankreich oder Italien. Hunderte von Offizieren und Soldaten aus den Armeen Napoleons und Murats lebten auf der Insel, sie jubelten dem gestürzten König entgegen, wo er sich zeigte, und die Korsen stimmten in diese Jubelrufe ein, ohne daß die königlich französischen Behörden es wagten, der allgemeinen Begeisterung für König Joachim entgegenzutreten. Der General Franceschetti, der jahrelang unter Murats Befehlen gestanden hatte und den dieser in Vescovato bei Bastia aufsuchte, stellte sich sofort wieder unter seine Befehle und war fortan sein vornehmster Berater. Viele andere frühere Offiziere und Soldaten strömten nach Vescovato und boten dem Könige ihre Dienste an. Es galt ihnen als selbstverständlich, daß Murat sein Königreich Neapel sich wiedererobern müsse.

Murat trat dem Landungsplane, den er längst erwogen hatte, nunmehr näher. Der erwähnte Mameluck Othello, der sich seinem Gefolge angeschlossen, hatte in Castellamare bei Neapel einen Verwandten, seinen Schwiegervater, und so beauftragte ihn Murat, nach Castellamare zu reisen, bei seinem Schwiegervater abzusteigen und möglichst unauffällig die Briefe zu bestellen, die er ihm einhändigte. Murat wandte sich in diesen Briefen an einige ihm aus seiner Regierungszeit her bekannte Personen, auf deren Anhänglichkeit er zählen zu dürfen meinte, und eröffnete ihnen, daß er in einem Hafen der Küste von Neapel eine bewaffnete Landung versuchen wolle; sie möchten ihn bei der Wahl des Hafens mit ihren Ratschlägen unterstützen. Nach Othellos Abreise begab er sich nach Ajaccio, wo er wie im Triumph einzog; man trug ihn auf den Armen in den von ihm gewählten Gasthof. Von dem freudigen Empfange hingerissen, sagte er zu dem General Franceschetti: „Wenn die Korsen mich so aufnehmen, was werden erst die Neapolitaner für mich thun!“ Er verschaffte sich durch den Verkauf mehrerer Diamanten die Verfügung über ansehnliche Geldmittel und betrieb nun die erforderlichen Vorbereitungen. Unter seinen alten Offizieren, die ihm wieder dienen wollten, traf er eine Auswahl. Von den älteren und jüngeren Soldaten, die sich zu seiner Fahne drängten, ließ er 250 Mann anwerben, sie sollten als Landungstruppe Verwendung finden. Zu schwerem Nachteil gereichte es ihm, daß es in Korsika nicht möglich war, größere Schiffe zu mieten. An fremde Hafenplätze hätte er sich nicht wenden dürfen, ohne Aufsehen und Verdacht hervorzurufen, und die Zeit drängte, denn er konnte in Ajaccio nicht länger den König und künftigen Eroberer spielen, ohne daß man von Frankreich aus gegen ihn eingeschritten wäre. Es gelang ihm nur, sich zehn kleine Fahrzeuge zu verschaffen, die, nachdem sie mit den nötigen Matrosen bemannt worden waren, zusammen nicht einmal für jene 250 Mann Raum boten; nur 160 Mann konnte er einschiffen. Die ganze Ausrüstung wurde in wenigen Tagen vollendet, und alle Beteiligten hielten sich bereit, auf den ersten Befehl an Bord zu gehen und abzusegeln. Es waren jetzt nur noch die Antworten auf die durch den Mamelucken bestellten Briefe abzuwarten.

(Schluß folgt.)



Blätter und Blüten.



Karl Reinecke, der langjährige Leiter der Leipziger Gewandhauskonzerte, der hochverdiente Lehrer am Konservatorium daselbst, feiert am 23. Juni seinen siebzigsten Geburtstag. Gleich bewandert und geehrt als ausübender Künstler, als Komponist und Lehrer wie in seiner Eigenschaft als Dirigent, bildet er heute den Mittelpunkt in dem blühenden Musikleben Leipzigs und prägt ihm den Stempel seiner Eigenart auf. Künstlerleben bedeutet meist Wanderleben – auch Karl Reinecke hat das in der ersten Hälfte seiner Jahre durchgekostet. Seit vierunddreißig Jahren aber ist er Leipzig treu geblieben, dort hat er die Fülle des Wirkens gefunden. Als er 1885 sein fünfundzwanzigjähriges Jubelfest als Leiter der Gewandhauskonzerte feierte, hat die „Gartenlaube“ seinem Entwicklungsgang eine ausführliche Darstellung]], begleitet von seinem Bildnis, gewidmet. Heute möge es uns gestattet sein, die zahlreichen Verehrer des Mannes in der Pleßestadt und draußen in der Welt auf jene Blätter[1] zu verweisen und daran nur noch den Wunsch zu knüpfen, daß das Bewußtsein eines reichgesegneten Daseins die ferneren Tage des Jubilars durchdringen möge mit immer neu belebender Kraft!

Des Deutschen Reiches höchste Zinne. (Zu den Bildern S. 409 und 413.) Ehe es ein Deutsch-Ostafrika gab, hatte unbestrittenen Anspruch auf den Ehrentitel als „des Deutschen Reiches höchste Zinne“ die Zugspitze (2968 m), die höchste Erhebung des Wettersteingebirges in den bayerischen Alpen. Nachdem freilich der Grund und Boden, auf dem der Kilimandscharo mit seinen 6000 Metern sich auftürmt, dem deutschen Schutzgebiete in Ostafrika einverleibt worden ist, hat die Zugspitze einen übermächtigen Nebenbuhler erhalten, nicht sie, sondern der die höchste Kuppe des Kilimandscharo darstellende „Kibo“ sollte von nun ab „des Deutschen Reiches höchste Zinne“ sein. Indessen ist der afrikanische Riese doch nur in weiterem Sinne ein „deutscher“ Berg, und wenn wir darum von ihm und seinen Landsleuten absehen, so bleibt der Zugspitze ihr alter Ruhm gewahrt – noch immer bezeichnet das mächtige goldene Kreuz, das wir dem Leser auf S. 409 vorführen, in der That „des Deutschen Reiches höchste Zinne“.

Noch im Anfange unseres Jahrhunderts galt die Zugspitze als „unersteiglich“, aber schon im Jahre 1820 wurde dieser Glaube durch die That widerlegt und drei Jahrzehnte später wurde sogar ein weithin sichtbares vergoldetes Kreuz gleichsam als Siegesdenkmal auf dem Scheitel des überwundenen Berges errichtet. Die Zugspitze hat zwei nahe beieinander liegende Gipfel. Man erreicht zuerst den um etwa zwei Meter niedrigeren Westgipfel, erst von diesem aus gelangt man über einen schmalen zerrissenen Grat zum höheren Ostgipfel. Die schwierige Begehbarkeit dieses Grates war der Grund, weshalb man 1851 das Kreuz auf den niedrigeren Gipfel stellte. Im Jahre 1882 brachte man es zu Thal, um es frisch vergolden zu lassen. Inzwischen war nun der Uebergang über jenen Grat durch Anbringung eines Drahtseils wesentlich leichter und gefahrloser gestaltet worden und so konnte man 1883 das in neuem Glanze erstrahlende Kreuz auf dem Ostgipfel, auf der in Wahrheit höchsten Zinne des Deutschen

  1. Jahrgang 1885, Nr. 38. Inzwischen ist auch eine ansprechende Biographie Reineckes aus der Feder des Musikdirektors und Musikschriftstellers W. J. v. Wasielewsky bei J. H. Zimmermann in Leipzig erschienen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 427. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_427.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2023)