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verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Reiches, errichten, wo es heute noch steht. Das Kreuz ist fünf Meter hoch und von der Kugel an aufwürts im Feuer vergoldet.

Der südliche Nachbar der Zugspitze ist der Schneefernerkopf (2869 m). Wer von dem an die Südseite des Zugspitzstockes sich anlehnenden Plattachferner nicht nach der Zugspitze selbst, sondern auf den Schneefernerkopf will, den führt der Weg an einem Naturschauspiel von überraschender Großartigkeit vorüber, an dem sogenannten „Wetterloch“, das unser Bild S. 413 zeigt. Durch die Oeffnungen, welche die gegeneinander gestürzten Felsen gelassen haben, thut sich ein wunderschöner Blick nach der Thalebene von Lermoos und Ehrwald auf, gegen die das Bergmassiv des Zugspitzstockes in nahezu 2000 Meter hohen Stellwänden abfällt.

Wilhelm Roscher †. Als ob einer hohen Geisteskraft die Fähigkeit innewohnte, auch das körperliche Leben stärkend zu durchfluten und ihm über das gewöhnliche Durchschnittsmaß der Menschen hinaus nicht Dauer bloß, sondern auch Arbeitsfrische zu erhalten, hat die deutsche Gelehrtenwelt der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit eine Reihe von Größen aufzuweisen, die bis in ein ungewöhnlich hohes Alter im Dienste ihrer Wissenschaft thätig geblieben sind. Auch Wilhelm Roscher, der hervorragende Nationalökonom, der am 4. Juni zu Leipzig starb, gehörte zu diesen Auserwählten. Fast 77 Jahre hat er vollendet, 56 Jahre sind verflossen, seit er mit seiner Doktorschrift in die wissenschaftliche Welt sich einführte, und 54, seit er die akademische Lehrkanzel bestieg. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang hat er als Forscher, Lehrer und Schriftsteller gewirkt und die fruchtbarsten Anregungen unter seinen Schülern wie Lesern ausgestreut.

Wilhelm Roscher wurde am 21. Oktober 1817 zu Hannover als Sohn eines höheren Justizbeamten geboren. Iu üblicher Weise durchlief er die Schulen seiner Vaterstadt, um dann von 1835 bis 1839 zu Göttingen und Berlin Geschichte und Staatswissenschaften zu studieren. Göttingen sah damals bewegte Tage: es war die Zeit des hannoverschen Verfassungsbruchs und des bekannten Protests der „Sieben“; zu zweien derselben, zu Dahlmann und Gervinus, stand der junge Roscher in näheren Beziehungen, während in Berlin vor allem Ranke tieferen Einfluß auf ihn gewann. Dank den Anregungen dieser Männer, dank seiner eigenen Begabung und seinem eisernen Fleiße schuf sich Roscher rasch eine geachtete Stellung in der deutschen Gelehrtenwelt. Nachdem er sich 1840 in Göttingen habilitiert hatte, 1843 zum außerordentlichen, 1844 zum ordentlichen Professor vorgerückt war, folgte er 1848 einem Ruf nach Leipzig, dessen Hochschule ihn von da ab, trotz wiederholter lockender Anerbietungen von außen, dauernd den ihren nennen durfte. Wie viele Geschlechter von Studierenden sind in dieser Zeit an ihm vorübergezogen, aus seinem Horsaät den tiefen Eindruck seines Wissens wie seiner Persönlichkeit mit sich hinausnehmend ins Leben! Nicht durch blendende Rednerkunst fesselte Roscher; aber er verfügte über einen klaren fließenden Vortrag, regte an durch die Reichhaltigkeit der Gesichtspunkte und gewann durch die Unparteilichkeit der Darstellung.

Professor Wilhelm Roscher.
Nach einer Photographie von Georg Brokesch in Leipzig.

Groß ist die Zahl der wissenschaftlichen Werke, die aus seiner nimmermüden Feder hervorgingen. Als die Bekrönung und Zusammenfassung seiner Lehre darf man sein fünfbändiges „System der Volkswirtschaft“ betrachten, ein Werk, an dem Roscher über 40 Jahre gearbeitet hat, das ins Französische, Englische, Italienische, Russische und andere Sprachen übersetzt worden und von dessen erstem Bande, den „Grundlagen der Nationalökonomie“, vor wenig Wochen die 21. Auflage erschienen ist, während der Schlußband, enthaltend das „System der Armenpolitik“, wenige Tage vor des Gelehrten Tode vollendet wurde. Neben dem „System der Volkswirtschaft“ ist noch die „Politik“ zu erwähnen, die erst vor zwei Jahren in zwei rasch aufeinander folgenden Auflagen herauskam, eine „geschichtliche Naturlehre“ der Monarchie, Aristokratie und Demokratie. – Roscher vertrat unter den Nationalökonomen die sogenannte „historische“, oder, wie er sie auch nennt, die „physiologische“ Richtung. Er befand sich damit im Gegensatz zu der „idealistischen Methode“. Fragt diese: „Was soll sein?“ und sucht dem entsprechend ein Ideal von Volkswirtschaft aufzubauen, so stellte sich Roscher auf den realeren Standpunkt: „Was ist? und wie ist es geworden?“ Er wollte geben eine „einfache Schilderung zuerst der wirtschaftlichen Natur und Bedürfnisse des Volkes; zweitens der Gesetze und Anstalten, welche zur Befriedigung der letzteren bestimmt sind; endlich des größeren oder geringeren Erfolgs, den sie gehabt haben. Also gleichsam die Anatomie und Physiologie der Volkswirtschaft!“

Roschers Hingang bedeutet einen schweren Verlust für die deutsche Wissenschaft, im besonderen für die blühende Leipziger Hochschule. Aber er lebt fort in seinen Werken und in seinen Schülern. An diesen ist es nun, das Erhe ihres Meisters zu wahren und zu mehren!

Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. (Zu dem Bilde S. 420 und 421.) Wiederum hat das grausame Nationalvergnügen der Spanier seine Opfer gefordert. In Murcia wie in Madrid haben in den letzten Wochen Stierkämpfer unter den Hörnern der gereizten Tiere ihr Leben lassen müssen, und ganz Spanien trauert um sie, als wären sie den Heldentod fürs Vaterland gefallen. Espartero, der zu Madrid auftrat, war ein besonderer Liebling des hauptstädtischen Publikums; sein Name auf dem Programm genügte, die weiten Ringe der Arena bis auf den letzten Platz zu füllen, und verschwenderischer Beifall folgte seinen Leistungen – bis einmal auch für ihn der Augenblick kam, wo das tobende Beifallsgeschrei sich jäh in beklommene Stille verwandelte, wo alle Gewandtheit des Körpers, alle Sicherheit von Hand und Auge zu Schanden wurde vor der ungebändigten Wut eines andalusischen Wildlings. Vier Pferde hatte der Stier getötet, da griff der Espada Espartero in den Kampf ein, mit seinem Degen die Entscheidung zu bringen. Ob der Gefeierte wohl zu lange mit den Verbeugungen zum Danke für schmeichelhaften Empfang sich aufhielt? Genug, ehe er sich dessen versah, war er von dem ungestüm auf ihn eindringenden Stier zu Boden geschleudert. Aber wie der Blitz ist er wieder auf den Füßen – jetzt gilt’s die kleine Scharte auszuwetzen! Ein Stoß mit dem nie fehlenden Degen zwischen des Stieres Nackenwirbel, sonst der fast augenblickliche Tod des Tieres! Aber diesem verleiht die Wut Kräfte, die auch die Todeswunde überdauern – mit zwei letzten Stößen seiner Hörner trifft der Andalusier den sich vielleicht schon sicher fühlenden Espada, und mit gräßlich verstümmeltem Körper bricht dieser auf der Wahlstatt zusammen, das menschliche neben dem tierischen Opfer einer rohen Volksleidenschaft. Man trägt ihn hinaus – und das „Spiel“ nimmt seinen Fortgang. Es stehen ja noch so und so viele andere „Toros“ auf dem Programm, und nicht das gräßlichste Blutvergießen kann die fanatischen Zuschauer zum Verzicht auf Fortsetzung und Schluß ihres Schauerdramas bewegen.

Solche Vorgänge wiederholen sich mit einer verhängnisvollen Regelmäßigkeit in den Arenen des „schönen Spaniens“. Darf es uns darum wundern, daß das prächtige Gemälde, das José Villegas vor einigen Jahren schon malte, fast bis in Einzelheiten hinein auf den Fall paßt, der heute zufällig der neueste ist.

Den todwunden Torero hat man in einen Anbau hinter der Arena gebracht, der zu einer Kapelle eingerichtet ist. Dort pflegt sich vor Beginn der Kämpfe die gesamte Stierfechtertruppe, die „Cuadrilla“, zu versammeln, um für ihr Leben zu beten; hier ist jetzt der Priester um den Sterbenden bemüht, ihm die letzten Tröstungen der Religion zu spenden. Die Braut, deren Stolz der Gefallene noch vor einer Stunde gewesen, hat sich in verzweifeltem Schmerz an der Bahre niedergeworfen – auch Espartero hatte eine Braut, mit der er bald Hochzeit machen wollte – die Genossen aber haben die kurze Pause, während draußen der Platz frisch hergerichtet wird, benutzt, um von dem Verscheidenden Abschied zu nehmen. Alle stellen sich in der Kapelle ein: entblößten Hauptes, die Blicke auf den Sterbenden gewandt, lauschen sie den Worten des Priesters. Die Majestät des Todes ist ihnen allen verständlich; ergriffen beugt sich der eine nieder, ernst sinnend steht der andere da. Nur einige wenige, die der Tod nicht schreckt, bleiben kalt – sie haben Aehnliches schon zu oft gesehen! Der Diener aber sammelt schon die abgenommene Prunkkleidung des Espada, der im letzten schlichten Kleide eben friedvoll seinen Atem aushaucht. Die ganze Tragik dieses blutigen Schauspiels, der Gegensatz zwischen dem glänzenden Flittergewand des Lebens und dem starren Tode, die Naturwahrheit der Gestalten, welche die Kapelle füllen, von dem ruhig seines Amtes waltenden Priester bis zu den Arena-Wächtern im Hintergrunde, die sich leise ihre Betrachtungen über den Vorfall mitteilen – das alles ist auf dem Gemälde von Villegas sprechend wiedergegeben.



Inhalt: Die Martinsklause. Roman aus dem 12. Jahrhundert. Von Ludwig Ganghofer (24. Fortsetzung). S. 409. – Auf dem Gipfel der Zugspitze. Bild. S 409. – Das Wetterloch bei der Zugspitze. Bild. S. 413. – Das Urbild eines Fabelwesens. Polyp und Seeschlange. Mit Bild. S. 417. – Die Kindermilch im Hause. S. 419. – Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. Bild. S. 420 und 421. – Ein Brief. Novelle von A. Godin (Schluß). S. 422. – Die Lotte, die Lotte. Gedicht von Richard Zoozmann. S. 425. – Das Ende eines königlichen Abenteurers. Von Eduard Schulte. S. 425. – Blätter und Blüten: Karl Reinecke. S. 427. – Des Deutschen Reiches höchste Zinne. S. 427. (Zu den Bildern S. 409 und 413.) – Wilhelm Roscher †. Mit Bildnis. S. 428. – Die letzten Augenblicke eines Stierkämpfers. S. 428. (Zu dem Biide S. 420 und 421.)


Nicht zu übersehen! Mit der nächsten Nummer schließt das zweite Quartal dieses Jahrgangs der „Gartenlaube“; wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellung auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Postabonnenten machen wir noch besonders darauf aufmerksam, daß der Abonnementspreis von 1 Mark 75 Pf. bei Bestellungen, welche nach Beginn des Vierteljahres bei der Post aufgegeben werden, sich um 10 Pfennig erhöht.

Einzeln gewünschte Nummern der „Gartenlaube“ liefert auf Verlangen gegen Einsendung von 30 Pfennig in Briefmarken direkt franko die Verlagshandlung:

Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. 



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1894, Seite 428. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_428.jpg&oldid=- (Version vom 6.9.2023)