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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zu vertreiben aus den verwüsteten Provinzen. Und da die kleine Zahl nach schwerem Ringen Sieger blieb, so fühlte sie sich auch stark genug, in Zukunft selbst die Leitung ihrer Geschicke in die Hand zu nehmen.

Das Gesetz („de Grondwet“) ist der eigentliche Herrscher in den Niederlanden, ihm beugt sich ohne Widerstreben der Höchste wie der Geringste. Die Oranier, denen seit den Tagen der nationalen Erhebung die Herzen des Volkes in warmer, ehrlicher Zuneigung entgegenschlagen, haben von jeher danach gestrebt, dem Volke zu geben, was ihm gebührt, und nichts konnte ihnen ferner liegen als ein Bruch der Verfassung. Der Inhaber der königlichen Gewalt ist unverletzlich, er kann nicht unrecht thun, denn die volle Verantwortlichkeit verbleibt dem Minister, ohne dessen Gegenzeichnung keine Gesetzesmaßregel vollzugskräftig wird. Die Wahlen zu den zwei Kammern der Generalstaaten vollziehen sich in vollster Freiheit, wie aüch die Presse vielleicht nirgends so völliger Selbständigkeit und Unabhängigkeit sich erfreut.

Als ich vor einigen Jahren die großen Auszüge und Zusammenrottungen der Socialisten in Amsterdam sah, als ich beobachten konnte, wie das berüchtigte Blatt der Socialdemokraten „Het recht voor allen“ („Recht für alle“) auf allen öffentlichen Plätzen und in den Lokalen von Hunderten gekauft wurde, obwohl es die gröblichsten Schmähungen der Königsfamilie enthielt, da schien mir der monarchische Sinn der Holländer nicht sonderlich lebenskräftig. Erst wenn man sich eingelebt hat in die den unseren vielfach geradezu entgegengesetzten Verhältnisse, in denen nichts verboten und alles erlaubt ist, gewinnt man den richtigen Maßstab auch für die Beurteilung der socialen und politischen Zustände des Landes. Die Königstreue der Holländer ist eine andere, eine nüchternere, als es sich mit der uns lieb gewordenen Auffassung verträgt; frei von der Leber weg wird alles behandelt, was das Königshaus betrifft, die ehrerbietige Scheu verschließt die Lippe nicht.

Das Königsschloß in Amsterdam ist ein altes, unscheinbares Gebäude, in dem so selten nur höfisches Leben erwacht; im Haag wohnt die Königssamilie sicherlich angenehmer; dort ist das Schloß moderner und freundlicher anzusehen. Ueberhaupt ist Amsterdam nicht eben reich an schönen Bauwerken; die Holländer haben sich erst seit den fünfziger Jahren etwa frei zu machen gestrebt von dem rein praktischen Kasernenstil, ohne aber bisher über ein gährendes Vielerlei hinaus zu einem eigenen Baustil gelangen zu können. Die eigentümlichen Schwierigkeiten der Bodenverhältnisse zwingen zu einer außerordentlichen Sparsamkeit in Bezug auf den Raumverbrauch, denn erst, nachdem die gehörige Anzahl von Pfählen in den nicht sehr festen Boden eingetrieben ist, wird derselbe tragfähig. Die natürliche Folge davon ist, daß man möglichst tief und hoch baut, während die Fassade schmal und unansehnlich bleibt. Dasselbe Sparsystem pflanzt sich bei der inneren Einrichtung naturgemäß fort; um die mangelhafte Breite gehörig auszunutzen, wird jeder Vorraum, jedes Nebengelaß so eng als möglich ausgeführt, und die Treppen haben eine gefährliche Aehnlichkeit mit dörflichen Hühnerstallstiegen. Von der glänzenden Einrichtung der Wohnränme stechen diese langen, schmalen und wenig geschmückten Häuserfronten auffällig ab; doch muß man berücksichtigen, daß bei dem völligen Mangel an natürlichem Baumaterial die Architekten meist auf verputzten und unverputzten Backstein sich angewiesen sehen, wollen sie die Baukosten nicht ins Ungemessene steigern.

Mit alleiniger Ausnahme der bevorzugten „Grachten“ sind alle Straßen eng; wer zum erstenmal, gleich hinter dem Schloß, in die weltberühmte „Kalverstraat“ gerät, der ist nicht wenig enttäuscht, wenn er gezwungen ist, von dem kaum mannsbreiten Bürgersteig auf den Fahrdamm abzubiegen und selbst hier noch nicht vor Püffen und Stößen sicher ist. Denn ein nie rastendes Treiben durchflutet diesen Teil der alten Handelsstadt, und bei der Abwesenheit beaufsichtigender Polizisten ist jeder genötigt, für seine eigene Sicherheit Sorge zu tragen. Doppelt belohnt aber für alle Mühsale und Enttäuschungen wird man durch einen Blick auf die glanzerfüllten Schaufenster; hier erst bemerkt man, daß man in einer reichen Stadt, nicht nur, nein, daß man im Paradies der Diamanten angelangt ist. In jeder Größe, gefaßt und ungefaßt, liegen die kostbaren Edelsteine da zur Schau, wahllos durcheinander gestreut wie von der Hand eines schätzereichen Schahs. Eine Promenade durch die Kalverstraat ist nicht ungefährlich für Frauenherzen, das Feuer der prächtigen Steine hat schon so manche versengt und dem Heimatlande abspenstig gemacht, um eine „brillante“ Partie in Holland einzugehen!

Ein gänzlich anderes Gepräge trägt der malerisch schönste Teil der Stadt, jenes enge Viertel, welches vom Amstelstrom in ungezählten Sträßchen und Gäßchen sich fast bis zur sogenannten „Plantage“ erstreckt. Wohl beginnt auch hier die Neuzeit einzudringen mit ihren Bauten modernsten Stils. Aber auf dem größten Teil dieses Gewinkels lagert noch eine tausendjährige Patina. Eine kleine Welt für sich läuft und schreit hier in buntfarbigem Gewimmel durcheinander. Dazu türmen sich auf den Straßen saftige Südfrüchte, goldfarbige Orangen, Citronen, Quitten, Datteln, Feigen; Gemüsehändler rufen ihre leckere Ware aus, der Milchmann setzt die Hausklingeln in Bewegung und ruft sein „melk, vershe melk“ in die Thüren hinein; Kinder stolpern und fallen übereinander, daneben wird gefeilscht, gestritten, geliebt, gehaßt, gehandelt und gebetet. Dort die nahe Synagoge mit der grünlich schimmernden Kuppel ist die geschichtliche und sagenhafte Stätte, wo Baruch Spinozas Lehrer, Uriel Acosta, seine revolutionären Thesen widerrief, um seinen Geist dem stürmisch mahnenden Herzen zu opfern.

Ueberreich ist der Stoff und allzu knapp nur bemessen der Raum; wir müssen uns daher hier einen Ueberblick über das geistige und künstlerische Leben der Niederlande versagen. Wohl sind die Zeiten der Rembrandt und Rubens, der Franz Hals und Wouverman lange vorüber, und die führende Rolle der niederländischen Meister in der bildenden Kunst ist ausgespielt. Aber die unvergänglichen Schätze eines großen Zeitalters sind zum größten Teil dem Königreich erhalten geblieben. Die Galerie im Haag, vor allem aber das großartige „Rijksmuseum“ in Amsterdam bewähren sie der staunenden Nachwelt auf.




Ballhäuser und Spielhallen.

Wenn wir heute von Ballhäusern sprechen, so verstehen wir darunter Häuser, in welchen getanzt wird. Die wenigsten unserer Zeitgenossen wissen, daß es einst Ballhäuser gegeben hat, in welchen ein anderes Bewegungsspiel fleißig geübt wurde, weite Hallen, in welchen jung und alt mit Ballwerfen und Ballschlagen sich vergnügte. Diese alten Ballhäuser sind heute fast spurlos verschwunden; aber es dürfte gerade in unseren Tagen von Belang sein, wieder einmal an die alten Einrichtungen zu erinnern. Geht doch ein frischer Zug durch unsere Städte; man hat den Wert der Bewegungsspiele für die Gesundheit wieder erkannt, und zahlreiche Vereine suchen die vergessene Vorliebe für Spiele im Freien im deutschen Volke wieder wachzurufen.

Da wird vieles empfohlen und versucht, was einst ehrsame Bürger und die frohe Jugend belustigt hat. Wettlauf, Speerwerfen, Steinstoßen, Reigen u. dergl. Vor allem aber erwirbt sich das Ballspiel in seinen verschiedenen Formen zahlreiche Freunde.

Kein Wunder! Das Ballspiel ist ein uraltes Belustigungsmittel. Zu Odysseus’ sagenhaften Zeiten vertrieb sich die schöne Nausikaa mit dem Balle die Zeit. Die Kulturvölker des Altertums pflegten eifrig das Ballwerfen, und nicht anders war es in den rauheren Ländern des europäischen Nordens. Die alten Germanen hielten ihre Ball- und Kugelspiele oft mit festlichem Gepränge ab, namentlich in der holden Frühlingszeit erfreute sich dieses Spiel bei dem Landvolke einer großen Beliebtheit. Als die Zeit kam, wo Städte in großer Zahl gegründet wurden, da folgte die altgewohnte Spiellust dem Bürger hinter Wall und Graben; und was wir heute erstreben, öffentliche Spielplätze, das konnten die meisten Städte des Mittelalters aufweisen. Sie verfügten über besondere „Wiesen“ und „Plätze“, die vorsorglich mit allem versehen waren, was die Abhaltung der gemeinsamen Spiele erleichtern konnte. Hier kamen des Abends die Bewobner der Stadt zusammen und vergnügten sich mit Speerwerfen und Steinstoßen, Reigen und Wettlauf, Kegeln und Ballspiel.

In einer alten Schrift über die Leibesübungen der akademischen Jugend wird von dem Ballspiel gerühmt: „Es trägt bei zur Gesundheit, vermehrt die Kraft und Behendigkeit des Körpers, erhöht die Gelenkigkeit der Glieder; es tritt dem Dickwerden entgegen, bringt Augen, Kopf, Hände

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_475.jpg&oldid=- (Version vom 26.7.2021)