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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

nicht gedeihen mochte. Beide glichen sie Krüppeln. Die grünen Blätter waren klein und schwach und die Knospentraube schwoll an, ohne daß der Blütenschaft an Länge zunahm. Sie erinnerten an jene kranken Kinder mit großen Köpfen und überzarten Gliedern, die so kluge Augen haben und auch so klug sind und nie heranwachsen.

Die Gesunden fingen bald an, zu blühen. Die erste Zwiebel mit den spärlichen derben Wurzeln trug wenige große, herrlich ausgebildete Blüten an einem kräftigen Schaft; die zweite wartete noch; die dritte vergeudete ihre Kräfte auf drei Blütenschäfte, von denen jeder unter dem Mittelmaße blieb, die vierte zeitigte eine große dunkelblaue und eine kleinere Blütentraube, zwei Geschwister, denen man dieselbe Abstammung ansah und die doch in Kraft, Größe und Wuchs auffallend voneinander abwichen. Dies überraschte mich bei den Hyacinthen. Ungleiche Geschwister bei den Menschen zu finden, fällt nicht schwer, in Körperart und in Sinnesart giebt es der ungleichen Brüder überall seit aller Zeit, wie die Ueberlieferung in dem Beispiel von Kain und Abel kund thut. Daß aber hier aus einer Zwiebel ein starkes und ein schwaches, ein reich und ein arm begabtes Wesen an den Tag kam, das war eine Widerlegung der Gleichheit in der Natur, wie sie eindringlicher gar nicht hätte sein können.

Kann man aber die eine blühende Hyacinthe reich, die andere arm begabt nennen? Ich denke ja, wenn es uns überhaupt gestattet ist, die Außenwelt mit unseren menschlichen Empfindungen zu beleben. So belebt das Kind sein Spielzeug, so entstanden Märchen, Sagen, Mythen und Götter, so ward der wilde Wind zum Wotan und der blütenerweckende Hauch des Frühlings zur Freia, die Sonne zum göttlichen Baldur, Frost und Wintersturm zu ungetümen Riesen. Und solange es Dichter giebt, wird des Menschen höchste Macht nicht ersterben, die stumme Natur zum holden Echo menschlichen Empfindens zu machen. Da wird er zum Schöpfer, der Totes mit seinem Hauche belebt, wird durch ihn doch erst die Rose mit ihrem Duft zum Liede der Liebe!

Wenn die Hyacinthen blühen, senden sie ihre Düfte aus. Was sie damit sagen wollen, das ist ihr Geheimnis, von dem jedoch die Forscher den Schleier gezogen haben. Sie blühen und duften für die Frucht, daß sie Nachkommen haben, die ihre Art, ihre Schönheit, ihre Wesenheit erhalten. Jede Glocke ist eine Begabung, je herrlicher sie sich entwickeln, um so harmonischer wird die Gesamtblüte, sie ragt hervor vor den anderen wie ein Mensch, dessen Können und Wissen, dessen Begabungen ihn Unzähligen voranstellen.

Allmählich begann auch die zweite Zwiebel zu blühen. Fest und derbe wie ihre Wurzeln waren die Blätter und der mit Knospen dicht besetzte Schaft. Nur noch wenige Tage, und das Ideal einer Hyacinthe stand in ganzer Schönheit da. So war ich zu vermuten berechtigt. Es kam aber anders. Eine einzelne der oberen Knospen färbte sich bläulich und wuchs denen ihrer nächsten Umgebung sichtlich voraus, und als sie sich bereits entfaltet hatte, waren jene noch grün und gering. Diese eine Blüte ward größer als alle übrigen der ausgeblüten Glocken, ja sie zeigte sogar Neigung zum Gefülltwerden und lenkte die Aufmerksamkeit alsobald auf sich. Wer sie sah, erfreute sich ihrer und lobte sie. Als jedoch ihre Mitknospen in ihrer unmittelbaren Nähe nicht nur nicht erblüten, sondern gilbten und abstarben, da machte sie keine ungetrübte Freude mehr, denn sie war groß und hervorragend auf deren Kosten geworden und hatte an sich gerissen, was jenen bestimmt war. Neben ihrer Pracht hingen gelb und welk die im Mangel zu Grunde gegangenen: neben dem Schwellen des Ueberflusses die magere Not.

So entwickelt sich oft auf Kosten mehrerer Fähigkeiten eine besondere Begabung, hier die Begabung für Mathematik, dort für Malerei, für Rechtswissenschaft, für Medizin, für Musik, für Bauen und Zimmern, und häufig genug unter Verkümmerung dieser oder jener wünschenswerten Eigenschaften. Der Künstler ist nicht immer ein gut rechnender Haushalter, dem Mediziner bleibt zuweilen das Gebiet der Künste verschlossen. Der Sprachforscher geht oft blind für die Natur durch das Leben und dem Ingenieur sind die Dichter der Griechen Ballast der Erkenntnis. Und jeder, der sich selbst prüft, wird finden, daß auch bei ihm nicht alle Begabungen gleichwertig entwickelt sind, daß die eine oder die andere wie die Glocke der blauen Hyacinthe Vorsprung nahm und sich zu besonderer Geltung ausprägte. Wer also prüft und nachdenkt, der wird das laute Geschrei von den Gesetzen der Gleichheit, denen die Menschen in Zukunft ihre Glückseligkeit verdanken sollen, gar bald als das erkennen, was es ist: ein Hohngeschrei auf die Gesetze der Natur, das nur Bethörte für erlösende frohe Botschaft halten können.

Die Chininzwiebel ward immer kränker. Zwar drängten sich purpurrote Blüten in dichter stengelloser Traube vor, aber sie trockneten dürr auf und die Spitzen der grünen Blätter färbten sich gelbbraun. Unten an der Zwiebel wucherte bläulicher Schimmel, der zehrte sie aus, ihm konnte die erkrankte, vergiftete Zwiebel keinen Widerstand leisten, und so sah hier das Auge frei, was im Tierkörper verborgen vor sich geht. Den geschwächten Organismus überfallen Bacillen, diese tötet das Arzneigift, gleichzeitig aber ist der Organismus so heruntergebracht, daß ein Pilz, dem das Arzneigift nichts anhat, ihn als Wirt erkiest und ihn gänzlich vernichtet.

Die sechste Hyacinthe aber machte zuletzt den Versuch, vom Lichte so viel zu erhaschen, als die verfehlten Umstände gestatteten. Die Sehnsucht nach dem Licht, das Begehren, auch zu leben und zu blühen, machte sich mit der Gewalt des Naturtriebes geltend. Sie hatte jedoch keine Wurzeln und mußte so nahe dem Wasser verschmachten. Wohl sah ihre Blüte das Licht, aber es waren nur wenige, winzige, weiße Glöckchen, die aus der Zwiebel hervorschauten: eine Blüte, alt vor der Zeit, wie verfehltes Leben.

So waren meine Hyacinthen, nur sechs an der Zahl; für mich aber waren sie ebensoviel Blätter aus dem Buche der Natur, darin auch die Gesetze für den sogenannten „Herrn der Schöpfung“, für den Menschen, geschrieben stehen.


„Up ewig ungedeelt!“

Novelle von Jassy Torrund.

Es war in jener Zeit, da Schleswig-Holstein sich zum zweitenmal aufraffte, seine Freiheit, sein gutes altes verbrieftes Recht gegen den dänischen Erbfeind zu verteidigen, verhaßte Bande abzuschütteln.

Jedermann weiß, wie es 1848 ergangen war, wie auf den großen Sturm der Begeisterung der traurige Rückschlag folgte, wie fremdländische Diplomatie diesem Freiheitskampf ein ruhmloses Ende bereitete. Rußland machte die Karten, und Preußen war genötigt, sie auszuspielen – und das Ende war, daß alles schlimmer wurde, wie es je zuvor im Lande gewesen.

Aber es kam eine andere Zeit, es kam das Jahr 1864, und aus dieser besseren siegreichen Zeit gilt es eine kleine Begebenheit zu erzählen, die auf keiner Geschichtstafel eingetragen wurde und es dennoch verdient, festgehalten zu werden, weil sie im kleinen wiederspiegelt, wie Schleswig-Holstein und Preußen sich die Hände reichten – für ewige Zeiten.

Also, um mit dem Anfang zu beginnen – es war einmal ein kleines wildes Eichkätzchen, ein „Katteeker“, wie man im holsteinischen Lande sagt; das wohnte aber nicht bei seinen Eltern draußen im grünen Walde, sondern in einer altmodischen kleinen Stadt, hatte auch keinen buschigen roten Schwanz, sondern zwei dicke kohlschwarze Zöpfe, die es lustig hinter sich her fliegen ließ, wenn es durch den Garten trabte. Daß ich’s nur gestehe: unser Katteeker war ein hübscher kleiner Backfisch mit den lustigsten schwarzen Schelmenaugen, die genau so verschmitzt blicken konnten wie die seines kleinen Namensvetters draußen im Walde.

Zur Zeit, da unsere Geschichte spielt, war das Katteeker zur Erziehung und Verfeinerung von seinen hartherzigen Eltern „ausgethan“ worden und fristete nun sein junges Leben in einem hübschen epheuumsponnenen Hause, bei Onkel und Tante Genthin, in der Gesellschaft zweier kleinen Basen und eines winzigen Vetters, der aber noch ganz ungefährlich war. Das heißt, wenn er schlief. Denn zu anderen Zeiten konnte einem manchmal wohl Hören und Sehen vergehen, wenn der musikalisch veranlagte junge Mann so recht aus vollem Herzen seine Jubelouverture – eigene Komposition! – anstimmte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 527. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_527.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2023)