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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Sonntag; das Gesinde hatte sich zum Besuch der Kirche in das Nachbardorf begeben, nur der alte Johann befand sich im Hause.

Es herrschte bittere Kälte. Neugierig lugte der Alte aus der Hausthür, als er Schellengeläut und Peitschenknall vernahm. An der Sandsteintreppe fuhr ein Schlitten vor, eine Dame in schwarzem Kleid stieg aus und ging langsam die Treppe hinan.

„Ist Herr von Weßnitz zu Hause?“ fragte sie kurz.

„Der Herr nimmt keinen Besuch an, schon seit einer Woche.“

„Wo ist er?“

„In seinem Zimmer.“

„So führen Sie mich zu ihm!“ Es klang wie ein Befehl.

„Ich darf nicht. Mein Herr ist –“

„Ich will es. Zeigen Sie mir das Zimmer; er muß mich annehmen.“ Widerwillig gehorchte der Diener und öffnete, oben angelangt, behutsam die Thüre. Entschlossen trat die Dame hinter ihm in den dämmerigen Raum und zog die Thür zu.

„Was willst Du, Johann?“ sagte Hermann mit müder Stimme.

„Ich bin es – Edda!“ Ihre Stimme zitterte doch etwas.

Eine Weile war es still. Dann klang es wie ein Seufzer zurück: „Edda!“ Kurz entschlossen schritt diese zum Fenster und riß den Vorhang zurück. Klares Sonnenlicht flutete herein. Hermann starrte mit geblendeten Augen in die Helle und auf die schwarze Gestalt mitten in den flimmernden Sonnenstrahlen. Ein Grauen überkam Edda bei seinem Anblick. Dies bleiche Antlitz, die gebrochen im Stuhle lehnende Gestalt, diese tödliche Müdigkeit auf den gramdurchfurchten Zügen! Sie stützte die Rechte auf das Fensterbrett.

„Ja, ich, Hermann, ich bin hier, weil ich kommen, weil ich sehen mußte, was aus Dir geworden.“

Er lachte schrill auf. „Mich willst Du hier sehen, mich? Fürwahr, das war die Reise nicht wert! Schickte Dich Dein Vater?“

„Ich komme auch in seinem Namen. Ich wäre sofort nach dem Eintreffen Deines Briefes hierher geeilt, aber mich hielt eine höhere Pflicht – ich mußte erst meinem kranken Vater die Augen zudrücken.“

„Auch er ist tot?“ Hermann schauerte zusammen.

„Ja, er ist tot, und der Tote schickt mich zu Dir.“

„Als Anklägerin?“

„Nein, um Dir zu sagen, daß er Deinem Vater verziehen.“

„Woran starb er?“ preßte Hermann hervor.

„An Blutvergiftung nach einer Operation.“

„Wie gut er es hat! O, so stumm und still in endloser Ruhe zu schlafen unter der Erde!“

„Willst Du mir zuhören?“ fragte Edda.

Er antwortete nicht, aber ohne darauf zu achten, begann sie zu sprechen. „Als ich damals Deinen Brief an meinen Vater las, sieh, da habe ich Dich verabscheut, habe Dich unfrei, ungerecht, feige genannt, habe die Liebe zu Dir aus meinem Herzen reißen wollen. Ich glaubte, alles, was ich für Dich gefühlt, sei nun für immer erstickt, gestorben –“ sie schwieg eine Weile, dann, mit der Hand sich langsam über die Augen streichend, fuhr sie fort: „Da kam Dein letzter Brief, Hermann! Mein Vater lag schon krank, hoffnungslos danieder. Hätte mich nicht die Kindesliebe an des Vaters Lager gehalten, ich hätte schon hier gestanden vor acht Tagen. Nenne es Mangel an Selbstbewußtsein, an Stolz … nenne es, wie Du willst – aber nach jenem Brief hatte ich nur einen Wunsch, hörte ich nur eine Stimme: jetzt braucht er dich, ihm thut ein Herz not, das ihn lieb hat – dein Platz ist neben ihm!“

Leise hatte sie die letzten Worte gesprochen.

„Und jetzt, wo ich den Vater begraben, jetzt bin ich hier – und sehe, daß ich beinahe zu spät gekommen wäre!“

In Hermanns Antlitz arbeitete es; es zuckte um seinen herb geschlossenen Mund, seine Augen erweiterten sich, als zöge in sie ein strahlend helles Licht ein. Plötzlich aber wandte er den Blick ab, der alte vergrämte Ausdruck trat wieder in seine Züge.

„Was willst Du von mir? Von dem Bettler, der in wenigen Tagen von der Scholle seiner Väter weichen wird, der froh ist, eine Stätte zu verlassen, die ihm alles geraubt hat. Was kommst Du und mahnst mich an das Unrecht, das ich Dir angethan, an die Schuld, die der Sohn zu der des Vaters fügte? Die Wunde blutet frisch genug! Was willst Du? Geh!“

„Nein, nein, ich gehe nicht; wir gehören zusammen – ich gehöre zu Dir! Hier ist mein Platz! Was frage ich noch danach, daß Du mich einmal von Dir gestoßen! Ich liebe Dich und will nicht dulden, daß der Mann, der mein war, der mein ist, einem thörichten Wahn zu lieb untergeht!“

Er entgegnete nichts; seine Gestalt kauerte sich nur noch tiefer zusammen in dem hochlehnigen Stuhl.

„Hermann liebst Du mich wirklich nicht mehr?“ fuhr sie leise fort. „Willst Du mich fortstoßen? Wir sind beide nun so allein, so verlassen – sollte uns das Schicksal nicht fester finden, wenn wir nebeneinander stehen?“ Unwillkürlich die Hände ausstreckend, war sie näher getreten. Ein wimmernder Laut kam aus seiner Brust – der starke Mann schluchzte.

„Hermann!“

„Edda!“ schrie er auf und umfaßte ihre Knie. „Ist es denn wahr? Du stehst zu mir, Du, der einzige Mensch in der Welt, den ich noch lieb habe? Du kommst zu mir, der Dich schnöde verlassen? Du, das Weib, mahnst mich, ein Mann zu sein?“

„Ja, weil ich Dich liebe, Hermann!“

Leise strich sie ihm mit der Hand über die Haare, über einen breiten silbernen Streifen darin, den die Sorge gezogen hatte.

Da sprang er auf und zog sie mit sich zum Fenster, hinein in das volle flutende Sonnenlicht. Sein Antlitz flammte.

„Ich grüße Dich, meine Sonne! Klar und hell wird es nun werden in mir, weil ich Dich habe, Edda, Dich, Du Starke, Edle.“

Edda lehnte sich an ihn, das Gesicht von einer ernsten seligen Freude verklärt.

„So wollte ich Dich sehen, Hermann! Stark und frei!“

Er blickte mit weit offenen Augen in das Sonnenlicht und legte den Arm fest um sie. Ueber den Bäumen des Parkes zog ein Vogel seine ruhigen Kreise aufwärts, dem Lichte zu. Er deutete mit fester Hand hinüber. „So laß uns aufwärts streben, Edda – der Sonne, dem Glücke zu!“


Gletscher und Eisberge.

Von W. Berdrow.

( gemeinfrei ab 2025)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_586.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2023)