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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 36.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

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Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.


„Jeder Mensch hat seinen Schutzengel,“ pflegte mein Vater zu sagen. Nun stellt man sich Engel gewöhnlich als ideale Wesen vor mit blonden langen Locken, lichten Gewändern und schönen weißen Flügeln, die unsichtbar neben den ihrem Schutze anvertrauten Menschen dahinschweben und sie gelegentlich verhindern, in irgend einen Abgrund zu stürzen. Aber das glaubt man nur in der ersten Jugend; später sieht man sie ja, die Schutzengel, in ihrer wirklichen Gestalt, die mitunter gar nichts Ueberirdisches an sich hat.

Als die Frau Stadträtin Wollmeyer gestorben war und ich mit Mama an ihrem Sarge stand, den man drunten im Hausflur mit allem möglichen düsteren Pomp umgeben hatte, da ahnte ich freilich nicht, daß auch sie auf Erden ein Engel, ein Schutzengel gewesen war. Mir wäre der Gedanke damals sicher drollig vorgekommen trotz allen Ernstes der Situation. Erst später lernte ich erkennen, wie treu sie gewaltet, und sah ein, daß engelhaftes Aeußere recht nebensächlich ist für dieses Metier.

Gute Seele Du, Hannchen Wollmeyer, geborene Himmel! Nun lag sie da draußen auf dem Trinitatis-Kirchhof. Ob der Witwer, der sich an ihrem Sarge beständig vor heftiger Rührung so laut die Nase schneuzte, daß es mir vorkam, als beabsichtige er die Tote im Sarge durch solche Trompetenstöße wieder aufzuwecken, ob der Herr Stadtrat Wollmeyer eine Ahnung hatte, was er an ihr verlor, das bleibe dahingestellt. Der Base, der Base Himmel, einer Kousine der Verstorbenen, die seit langen Jahren ein bescheidenes sauer verdientes Gnadenbrot im Wollmeyerschen Hause aß, der war es klar, denn sie wischte sich die Thränen mit dem Schürzenzipfel aus den Augen und sagte. „Was soll nun aus ihm werden, sie war sein guter Geist, die Hanne!“

Es ist keine schönere Leichenrede, kein höheres Lob an ihrem Sarge geredet worden, als diese paar Worte enthalten.

Seitdem war gerade ein Jahr verflossen. Ich saß mit meiner Mutter am Fenster der Wohnstube in der Dämmerung des Herbstabends. Sie hatte die feinen fleißigen Hände ausruhend gefaltet und sah in den Schloßhof hinab; wir sprachen nichts. Ich versuchte mir die Verstorbene wieder vorzustellen, wie sie bei Lebzeiten gewesen. Frau Hannchen Wollmeyer hatte äußerlich wenig Aehnlichkeit mit der Base gehabt; letztere war eine hagere Person mit ernsten fast strengen Zügen, für gewöhnlich wortkarg und verschlossen; Hannchen war rund und allzu dick gewesen, immer zu Thränen und Reden bereit, immer in nervöser Angst vor ihrem Eheherrn. Aber die Eigentümlichkeit naiver unverdorbener Frauengemüter, das Mitgefühl mit fremdem Leid und fremder Freude, das Bestreben, das, was ihre Pflicht gebot, bis zum Aeußersten zu erfüllen, hatten beide gemeinsam, und das letztere ward ihnen nicht immer leicht gemacht! Und noch in etwas glichen sie sich: sie liebten mich beide rührend. „Das Hannchen hat Sie sehr lieb gehabt,“ pflegte die Base des öftern zu sagen.

Ach ja, das wußt’ ich wohl! Unzählige jener kleinen und doch so großen Freuden meiner Kinder- und Backfischzeit verdanke ich ihrer Güte. Sie hatte ein Kind, ein Mädchen, gehabt und es begraben müssen und liebte nun Sternbergs kleine Anneliese mit wehmütiger Zärtlichkeit. Unter Thränen holte sie mir an Winternachmittagen die Puppen und den kleinen

Photogravüre im Verlag von V. A. Heck in Wien.

Slowakische Spielwarenhändlerin.
Nach einer Originalaufnahme von Ch. Scolik.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 597. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_597.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2022)