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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Ein Reisespiegel.

Von Heinrich Noë.

Es vergeht kaum ein Sommer oder ein Herbst, wo nicht in der von der Reisezeit ins Leben gerufenen Litteratur Klagen über unliebsame Dinge zum Vorschein kämen, mit denen die Wandervögel in Wirklichkeit oder in der Einbildung in Berührung gekommen sind. Man hört da von Unbilden, welchen man hier und dort in Gaststätten ausgesetzt gewesen sei, von Uebelständen, die man auf Eisenbahnen angetroffen habe, von Uebervortheilungen, deren Opfer man gewesen, und Aehnliches mehr.

Die Fruchtbarkeit, welche alljährlich auf diesem schriftstellerischen Gebiet zu beobachten ist, kann nicht anders als dahin gedeutet werden, daß eben auch im Reisewesen die menschliche Unvollkommenheit in einer allerdings oft lästigen Weise sich offenbart. So zweifellos das ist, so nützlich dürfte es sein, gelegentlich auch einmal den Gebrechen die nicht den erwähnten Dingen, sondern den Reisenden selbst anhaften, einige Aufmerksamkeit zuzuwenden, ihnen zur Beförderung menschlicher Selbsterkenntnis einen klaren Spiegel, welcher nicht schmeichelt, vorzuhalten.

Unsere Vorfahren hatten eine Liebhaberei für derartige „Spiegel“ in Gestalt von Büchern. Da gab es ein Speculum puerorum. (Knabenspiegel), ein Speculum morum (Sittenspiegel), einen Ritterspiegel, einen Spiegel deutscher Leute etc. Auch der „Reisespiegel“, den ich im Sinne habe, könnte ein recht stattliches Buch werden. Es sollen hier indessen nur einzelne Augenblicksbilder herausgegriffen und dem Leser vorgeführt werden.

Als Einleitung zu denselben wäre im allgemeinen zu bemerken, daß die Menschen heutzutage aus dem Grund nicht mehr so viel geistigen Gewinn von ihren Erholungsreisen mit heimbringen wie noch etwa vor einem halben Jahrhundert, weil sie sich verhältnismäßig selten ordentlich vorbereiten. Jeder, der es an sich selbst erfahren hat, weiß, welcher Unterschied im Reisegenuß daraus hervorgeht, ob man vorher ein gut geschriebenes Buch über das Land, das man besucht, in sich aufgenommen hat, oder ob man es in gänzlicher Unwissenheit betritt. In letzterem Falle entgehen dem Reisenden ungezählte Beziehungen, die im anderen seine Teilnahme anregen. Wie sehr verschieden wirkt beispielsweise der Eindruck einer Stadt auf jemand, der sich im voraus ein wenig um ihre Geschichte bekümmert hat, und auf einen anderen, der davon nichts weiß! Für jenen sprechen die Steine, für diesen schweigen sie. Und ähnlich verhält es sich mit der Landschaft.

In unseren Alpenländern ist jetzt den meisten Bahnzügen ein sogenannter „Aussichtswagen“ eingefügt, der von wohlhabenderen Reisenden gern benutzt wird. Ein nicht geringer Teil dieser Reisenden zieht indessen aus dieser bequemen Einrichtung nicht den geringsten Gewinn. Während die Bilder vorüberfliegen, liest der eine emsig in seinem Bädeker, aus welchem er erfährt, was er sehen könnte, wenn er zum Fenster hinausschaute. Und Leute, welche das thun, gehören noch zu den geistig Regsameren. Andere begnügen sich damit, die Eintretenden zu mustern, die verlegenen Bewegungen zu beobachten, mit welchen diese sich nach einem nicht mit Gepäckstücken belegten Sitzplatze umschauen. Für solche liebenswürdigen Reisegenossen besteht die Bildung in der zur Schau getragenen gleichgültigen Miene, in frostiger Wortkargheit und Zugeknöpftheit, in modefarbenen Handschuhen und in der möglichsten Bethätigung des echt modernen Grundsatzes, die Grenzen des eigenen vermeintlichen Rechtes so weit wie möglich vorzuschieben. Wieder andere behelfen sich mit Kartenspielen auf dem von Sitz zu Sitz gebreiteten Plaid, oder kauen in banalstem Zwiegespräch während des zweiten Teils ihrer Fahrt den Inhalt der Zeitung wieder, die sie während des ersten Teils vom Leitartikel an bis zu den Verlobungsanzeigen durchgelesen haben.

Nicht gering ist die Anzahl derjenigen Reisenden, die nicht einmal ein Reisehandbuch besitzen. Reiu aufs Geratewohl fahren sie im Lande umher. Ihre Erkundigungen ziehen sie bei Mitreisenden ein, die oft selbst nicht besser unterrichtet sind, bei Bahnbediensteten, Hotelportiers, Dienstmännern u. dergl. Namentlich Frauen, welche ohne männliche Begleitung reisen, verfügen selten über ein Buch. Man scheut die Ausgabe dafür und muß dann oft den Mangel durch einen einzigen Fehlgriff teurer büßen, als das Buch gewesen wäre. Das ist um so verwunderlicher, als kein Volk Reisehandbücher besitzt, die sich in Bezug auf Brauchbarkeit und verständige Anordnung des Inhalts mit den deutschen messen können.

Mit welcher Unwissenheit gereist wird, ist oft geradezu unglaublich. Der Verfasser dieser Zeilen erinnert sich, einmal auf einer Fahrt von Wien nach dem Süden die Bekanntschaft einer aus neun Köpfen bestehenden Familie gemacht zu haben. Als wir uns schon in der Nähe der Adria befanden, jammerte der Familienvater über die Länge und Kostspieligkeit der Reise, deren Ziel Venedig war. Auf meine verwunderte Frage, warum er diese Eisenbahnlinie, die über den Karst führt, gewählt habe und nicht die weit kürzere und viel billigere über Villach und Pontebba, antwortete er unter Berufung auf seinen Bädeker, daß es von Wien nach Venedig keine andere Eisenbahnlinie gebe als eben diejenige, auf welcher wir fuhren. Und sein Bädeker hatte recht – aber nur für die Zeit, in welcher er gedruckt war, nämlich für zwanzig Jahre vorher. Hätte sich der Mann mit einer neuen Auflage versehen, so würde er sich einen guten Teil der Weglänge erspart haben, über die er jetzt jammerte.

Ein anderes Mal hatte ich Gelegenheit, einen ähnlichen Familienjammer zu beobachten. Auf einer Fahrt von Wien nach dem Semmering befand sich ein norddeutscher Hausvater mit seinen zahlreichen Angehörigen. In der Nähe von Vöslau frug er mich über die Bedeutung eines langhingezogenen brückenähnlichen Mauerwerkes. Er meinte damit den Aquäduct von Wien. Ich sagte, es sei die Hochquellenleitung, die Wien mit Gebirgswasser versorge. „Das muß ja furchtbar teuer sein,“ bemerkte der Herr. Etwas verwundert antwortete ich, daß wohl der Bau der Leitung viel Geld gekostet habe, im übrigen aber mir von einer Wasserteuerung in Wien nichts bekannt sei. Darauf zeigte er mir eine Rechnung seines Gasthofs, auf welcher „Bäder in Hochquellenwasser“ zu unglaublichen Preisen berechnet waren. Man hatte ihm die Meinung beigebracht, Hochquellenwasser sei eine Flüssigkeit eigener Art. „Ich konnte es ja thun,“ fügte er selbstgefällig hinzu, „und ermahnte den Hotelbediensteten, nur das teuerste Wasser zu nehmen.“ Meine Bemerkung, daß es in der Wasserleitung der Stadt Wien überhaupt kein anderes gebe, bereitete ihm nachträglich Verdruß. Ergötzlich war auch sein Erstaunen über die bergige Umgebung, durch die wir dahin fuhren. Niemand in der Familie hatte gewußt, daß Wien eine solche Umgebung habe. Die Leute waren auf die Empfehlung eines Lohndieners hin am ersten Tag in den Prater gefahren und hatten diese Fahrt während ihres Aufenthaltes von über zwei Monaten alltäglich wiederholt, weil es ihnen dort gefallen hatte.

Einmal wurde mir an einer Bahnhaltestelle, die etwa hundert Kilometer von der Küste entfernt liegt, eine Frage gestellt, die meine kühnsten Anschauungen über den Unverstand, mit dem manchmal gereist wird, über den Haufen warf. Es befindet sich dort neben dem Bahnhof ein etwa zwanzig Meter langer und zehn Meter breiter Sammelteich, der das Wasser zum Speisen der Lokomotiven enthält. Mein Reisenachbar wollte wissen, ob das „schon das Meer sei“. Ich antwortete verneinend und fügte belehrend hinzu, das Meer sei viel größer. Doch konnte ich mich nicht enthalten, meinerseits ihn zu fragen, wie er auf die Vermutung komme, hier das Meer vor sich zu haben. Er antwortete, daß er gehört habe, das Meer sei grün, und in der That besaß das Wasser des schlammigen Sammelteiches einen Schimmer von apfelgrüner Farbe.

Ein anderes Mal hatte ich Gelegenheit, mich über die Vorbildung zu verwundern, mit welcher mancher unserer Zeitgenossen seine italienische Reise antritt. In einem Garten zu Florenz ging ich hinter zwei Herren her, welche diese Anlage als eine pflichtschuldige Sehenswürdigkeit „abthaten“. Plötzlich blieb der eine der beiden vor einem Baume stehen, faßte ein Blatt an und rief seinem Begleiter im Tone der Ueberraschung zu: „Da sieh, das ist ja ein Lorbeerblatt!“ Und als der andere, nicht minder überrascht, hinblickte, fuhr der erste fort: „Ein ganzer Baum! Und hier wieder einer, viele, viele!“ Bis jetzt hatte er ein Lorbeerblatt offenbar nur für ein Ding gehalten, welches man zeitweilig in Bratensaucen und hinter den Auslagefenstern von Fleischwarenhandlungen auf den Stirnen von Schweinsköpfen wahrnimmt. Daß es auch haufenweise auf Bäumen vorkomme, davon hatte er offenbar keine Vorstellung. Ich erwog, wie viele deutsche Schriftsteller

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_634.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2023)