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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


Die Base brachte mir ein sehr verspätetes Essen. „Gott, Fräulein Anneliese, nicht böse sein! Bringe Ihnen auch Ihr Leibgericht.“

Ich mochte nicht essen. Matt und fiebernd legte ich den Kopf zurück; es war doch im Grunde recht schwach bestellt mit meiner Gleichgültigkeit.

Um halb sechs Uhr fragte die Base, ob ich die Eltern von der Bahn holem wolle, Friedrich fahre eben hin.

„Nein!“ antwortete ich kurz.

Und ich saß da in der tiefen Dämmerung und das Herz klopfte mir wie wahnsinnig bei jedem Pendelschlag der alten Uhr in dem Stübchen der Base. Die Laterne vorm Thorweg drüben strahlte rötlich im Dunst und Duft des Novemberabends, und vor dem Fenster regte es sich wunderlich, die ersten großen Schneeflocken taumelten hernieder, anfänglich einzeln und schwerfällig, dann rascher, dichter, und zuletzt ward es ein toller wilder Tanz. Weich und weiß legte sich eine schimmernde Decke auf die Aeste der hundertjährigen Linden vor den Fenstern, breitete sich ein leuchtender Teppich über den Hof. Ich konnte den wirbelnden Flockentanz vom Ofen aus sehen, in dem der heimatliche Torf langsam verglomm, aber ich hörte dieses weichen Teppichs wegen nicht den Wagen und saß da, ahnungslos, daß meine Mutter mit enttäuschter Miene eben den Fuß über ihre Schwelle setzte, und brütete und wartete. Erst als ich über mir ein Geräusch vernahm im oberen Stockwerk, schreckte ich auf. Sollte sie schon? Aber nein! Sie hätte ja zuerst nach mir gefragt, wäre zuerst zu mir gekommen!

Die Base trat herein, das alte dürre Gesicht rot vom Herdfeuer und vom Eifer. „Aber, Anneliese,“ sagte sie sanft und vorwurfsvoll, „Sie hätten doch wohl der Mama bis an die Thür entgegengehen sollen – sie hat so traurig ausgesehen, und er – er hat ein Gesicht gemacht wie drei Tage bös Wetter.“

So wird also der Kampf beginnen, sagte ich mir und stieg mit zusammengebissenen Zähnen die Treppe empor, um Mama zu begrüßen, völlig überzeugt, einem unangenehmen Auftritt entgegenzugehen. Aber es kam anders. Die Herrschaften seien noch beim Umkleiden, berichtete das Stubenmädchen und ließ mich in einen Salon treten, der wahrhaft reizend eingerichtet war. Ich hatte Muße, alles das zu betrachten, ebenso das daneben befindliche Speisezimmer, in dem sich die durch Künstlerhand aufgefrischten Ahnenbilder der Serrenburgs sehr stilvoll ausnahmen, und dann das Boudoir Mamas auf der anderen Seite des Salons, das in blassem Blau gehalten war. Nichts hatte man gespart, was Geschmack im Verein mit Kunstfleiß hervorzubringen vermag, und ich mußte mir gestehen, daß Herr Wollmeyer alles gethan habe, um seiner zweiten Frau ein wahrhaft vornehmes Heim zu bereiten.

Die Not, die Dürftigkeit war zu Ende, aber die Ueberzeugung, daß aus diesen Räumen mit der bescheidenen Einrichtung der Frau von Sternberg auch das alte Glück gewichen sei, die ließ ich mir nicht nehmen.

In diesem Augenblick hörte ich die fette, vor innerem Behagen überquellende Stimme meines Stiefvaters hinter der Portiere: „Das Töchterchen, wo ist denn unser liebes Töchterchen?“ und gleich darauf trat er über die Schwelle mit ausgestreckten Händen und glänzendem Gesicht. „Grüß Gott! Grüß Gott, meine liebe kleine Anneliese!“ rief er, als wären wir stets die besten Freunde gewesen, und trotz der Abwehr hatte er mich an seine Brust gezogen und seine Lippen auf meine Stirn gedrückt.

Mir rann es wie Eis durch die Adern. Ich blieb stumm und wich zurück, und dann kam Mama und ich flüchtete in ihre Arme und forschte in ihrem Gesicht, als könnte ich darin lesen, ob sie meinen geliebten Papa und mich ganz vergessen habe. Sie sah frisch aus und rosig und trug ein auffallend elegantes Hauskleid, so wie es erste Liebhaberinnen auf der Bühne in einem französischen Salonstück zu tragen pflegen.

„Meine liebe kleine Anneliese,“ sagte sie, „nun muß ich gleich böse mit Dir sein! Ich hatte auf der ganzen Fahrt davon geträumt, Dich auf der Schwelle des Hauses zu sehen bei unserer Ankunft, und –“ '

„Ach was, es wird nicht gescholten, Helene!“ fiel Herr Wollmeyer ein. „In dem Schnee hört man das Rollen des Wagens nicht, und in der Hausthür kann das Kind doch auch nicht stehen, um sich unserthalben der Zugluft auszusetzen. – Wie geht’s denn mit Ihrer Gesundheit, Anneliese, ist der Husten besser?“

Fabelhaft liebenswürdig und gutherzig klang es. „Ich danke, ja,“ log ich und sah meinen Fürsprecher an mit einigermaßen erstaunten Augen.

„Und Du wohnst nicht hier oben in Deinen hübschen Zimmern?“ klagte Mama weiter.

„Nein. Ich fühle mich unten gemütlicher.“

„Aber, Helene, ich bitte Dich,“ fiel er ein und schritt umher mit auf dem Rücken gekreuzten Händen und lächelndem Gesicht, „so laß sie doch! Sie wird sich schon mit derZeit herauf gewöhnen. Zeit lassen, liebe Helene, Zeit lassen! Du mußt nicht verlangen, daß der kleine Gletscher da mit einem Male schmilzt, gelt, meine liebe Anneliese? Nach und nach, wenn Sie Ihren Stiefpapa erst genauer kennen, werden Sie ihm gut werden – eh! eh!“ lachte er, als ich unwillkürlich eine abwehrende Bewegung machte – „heute und morgen freilich noch nicht – Zeit bringt Rosen!“ Und damit warf er mir eine Kußhand zu und verschwand im Eßzimmer, um die Tafel zu besichtigen.

„Du hättest wenigstens in Deinem Briefe danken können, Anneliese, für die zarte Fürsorge, mit der er in seinem Hause Dir ein Heim eingerichtet hat. Was soll werden, wenn Du so steifnackig bleibst? Wirst Du nie einsehen, wie falsch Du ihn beurteilst? Daß Du ihm sehr viel Dank schuldest?“

„Ich würde sehr glücklich sein, wenn ich es eines Tages einsehen könnte, Mama – Deinetwegen. Bitte, bitte, laß mich auf meine Façon selig werden, dort unten zwischen meinen alten Erinnerungen; ich will ja sonst alles thun, um das gute Einvernehmen, den Frieden Deines Hauses nicht zu stören.“ –

Ach, ich hätte vor der Hand den Frieden des Hauses nicht stören können, auch wenn ich gewollt. Herr Wollmeyer strahlte am Himmel dieses Hauses wie die Friedenssonne selber und überschüttete alles, was in seinen Bereich kam, mit seinen goldenen Strahlen, und meine völlige Unempfindlichkeit gegen diese Strahlen geruhte er im Vollgefühl seines Glanzes gar nicht zu bemerken, im Gegenteil, er lächelte mich nur um so huldvoller an. Für jedes höhnische Zucken meiner Mundwinkel bei einer seiner protzenhaften Taktlosigkeiten hatte er eine Liebenswürdigkeit, für jede offenbare Nichtbeachtung eines seiner Wünsche die Erfüllung irgend eines der meinigen. Ich sah mich plötzlich, als ich mich weigerte, die längst besprochene Reise meiner Gesundheit wegen zu unternehmen, im Besitze eines reizenden Ponygespanns, um so Gelegenheit zu haben, recht viel frische Luft zu schöpfen, und eines Tages stand ein neues sehr schönes Pianino in meinem Zimmer. Gottlob, das alte hatte man daneben belassen, und auch der Pony hatte Ruhe vor mir!

(Fortsetzung folgt.)


Ein entführtes Herzogskind.

Von Eduard Schulte.


Es war um die Zeit, da Kardinal Richelieu als Minister König Ludwigs XIII. seine Kämpfe gegen die einer machtvollen Monarchie in Frankreich widerstrebenden Elemente führte. Gar mannigfacher Art waren die Gegner. Die Familienhäupter des hohen Adels beanspruchten noch um diese Zeit dem Könige gegenüber nicht geringeren Rang und nicht geringere Rechte – vom Wahlrecht natürlich abgesehen – als im Deutschen Reiche die Kurfürsten gegenüber dem Kaiser; die Hugenotten, die Bekenner des Protestantismus, bildeten, auf ihre eigenen Festungen gestützt, einen Staat im Staate, die obersten Gerichtshöfe, die sich „Parlamente“ nannten, beschränkten sich keineswegs auf die Rechtsprechung, sondern griffen auch in die Verwaltung ein und wurden sogar amtlich als „souverän“ bezeichnet.

Zu den Führern sowohl der aufsässigen Adligen als der Hugenotten gehörte der Herzog Heinrich von Rohan, Fürst von Leon. Er war einer der angesehensten und reichsten Herren in Frankreich, seine Familie war mit Herrscherhäusern verwandt und fühlte sich selbst als Herrscherhaus; er würde keinem deutschen Landesfürsten den Vorrang eingeräumt haben. Aus seiner Ehe mit Margarete von Bethune, der Tochter des Ministers Herzog

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 675. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_675.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)