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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Nr. 46.   1894.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

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Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.
     (10. Fortsetzung.)

Diesmal schritt ich nicht dem Dorfe zu, sondern in entgegengesetzter Richtung, ich mochte all die Weihnachtsvorbereitungen nicht sehen, was kümmerten sie mich! Auf der Landstraße inmitten der großen Wälder wurde ich am wenigsten an sie erinnert. Und so wanderte ich mit raschen Schritten thalabwärts; ein paar Holzschlitten begegneten mir, auf jedem lag ein Weihnachtsbäumchen. In der Luft hing viel Schnee, und einzelne weiße Flocken taumelten auch schon hernieder. Meine Stimmung wurde immer banger, immer trostloser; mein junges Herz schrie förmlich auf vor Sehnsucht. Ich hatte ja gar nichts, gar nichts in der Welt – Mama liebte mich nicht, nein, sie liebte mich nicht mehr; aus Sorge um mich hatte sie sich verkauft und hatte mich unglücklicher gemacht mit diesem Opfer, als ich es in Hunger und Not geworden wäre. Und das war das Schlimmste, sie hatte ihre Seele mit verkauft, sie empfand nicht mehr, daß sie half, mich elend zu machen, sie fühlte wie ihr Gatte, und wenn wirklich noch ein Restchen von Liebe für mich in ihr war, so würde auch dies sich bald einem andern Gegenstand zuneigen. Ach, wie schrecklich der Gedanke, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, die man nicht lieben kann, die man hassen muß! O, ich haßte die Geschwister jetzt schon von ganzer Seele, wie nur ein liebebedürftiges verstoßenes junges Menschenkind zu hassen vermag. Und wie sie es verstanden, alle, alle, mich zu foltern! Ein Gefangener war besser daran, der durfte arbeiten für künftige Jahre der Freiheit – ich saß unthätig da. Ich hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, war wie ein unmündiges Kind, dessen Willen man nicht beachtet, weil es eben kindisch ist, und dem ein Urteilsvermögen nicht zugebilligt wird. Nicht ’mal einen Pfennig Geld besaß ich.

Mama hatte ich nicht darum bitten wollen, die Base auch nicht; auch nur ein kleines Weihnachtsgeschenk für die alte treue Seele zu besorgen war ich außer stande gewesen. Was sollte mir auch Geld, mochten sie denken. Man gab mir Kleidung und Essen und mehr wäre vom Uebel gewesen, ich hätte ja damit ausreißen können! Nur Zeit ließ man mir, Zeit in Hülle und Fülle, um über mich nachzudenken, um möglichst gründlich einzusehen, welch eine Thörin ich gewesen war, den reichen Freier auszuschlagen.

Ich ballte die Hände im Muff. Da rede man noch vom freien Willen eines Menschen, eines Frauenzimmers obendrein! Lag es in meiner Macht, mich dieser Lage zu entziehen? Sicher nicht. Auf welche Weise denn? Nicht einmal das Reisegeld bis zur nächsten größeren Stadt hätte ich gehabt, nicht ’mal so viel, um in den allerbescheidensten Gasthof zu gehen, bis ich eine Stellung gefunden, oder um ein Vermittlungsbureau oder eine Anzeige zu bezahlen. Ich konnte mich doch nicht auf der Landstraße weiter betteln. Es klingt so einfach: durch eigene Kraft, auf eigenen Füßen durchs Leben! Wie schwer ist es aber für ein Mädchen, das nicht von frühester Jugend auf dazu erzogen ist! Man hatte mich so erziehen wollen, aber das Kranksein, das unselige Kranksein! O, bettelarm war ich an Habe, an Schutz, an Liebe!

In diesen Gedanken hatte ich nicht darauf geachtet, welch

Der neue Kanzler des Deutschen Reiches,
Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst.
Nach einer Aufnahme aus dem Atelier van Bosch in Straßburg i/E.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_773.jpg&oldid=- (Version vom 23.8.2022)