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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Franz Bandholts Weihnachten.

Von Johannes Wilda. Illustriert von Fritz Gehrke.

Ein grauer Himmel, unter dem der Sturm aus Nordwest die tiefhängenden schwarzen Wolken jagt; eine graue öde Fläche, auf der es sich weißschimmernd hebt und senkt. So weit das Auge zu schauen vermag, nichts als Himmel und Meer, nichts als die unermeßliche, brausende Wasserwüste. Und doch – etwas steigt dort auf und ab; etwas, das wie ein umgekehrter Pendel nach rechts und links schlägt. In der Nähe gesehen, ist es ein einsames Schiff, ein Schooner unter Sturmsegeln, von den hinter ihm her stürzenden Wellenmauern ruckweise vorwärts geschleudert und einen Schaumberg vor seinem breiten, nach unten gesenkten Bug einherwälzend.

Aber das würde uns kaum fesseln: eine gleichförmige, trostlose Spätherbst-See mit einem sie durchpflügenden unausehnlichen Kauffahrteischiff. Es wäre an sich wirklich ganz uninteressant – und doch verfolgen wir diesen reizlosen Vorgang mit Aufmerksamkeit, weil wir wissen, daß Kapitän Bandholt die von Iquique mit Salpeter nach der Elbe segelnde „Athapaska“ führt, und daß er der Vater von Franz ist. Er selbst würde freilich nur sagen: von Meta, denn seine Gedanken weilen einzig bei dem Töchterchen, während er, ganz in gelbes Wachstuch und schwarzes Schmierleder verpackt, breitbeinig auf seinem naßglänzenden, schwankenden Achterdeck auf- und abtorkelt, wobei er jeden Augenblick einen Schuß nach vorn bekommt und jeweilig mit einem eingeknickten und einem lang seitwärts gestemmten Bein auf den jäh entstehenden Steilschrägungen des Deckes abstoppen muß. Ja, kennt denn Bandholt seinen Franz nicht ebensogut wie seine Meta? Freilich. Und er kennt ihn trotzdem nicht! Denn, wie kann man einen kennen, um den man sich nie bekümmert hat, den man selten sieht, wenn man ihn aber sieht, immer mehr in sich selbst zurückscheucht, indem man ihn unaufhörlich merken läßt, wie wenig er geliebt wird? – – Seit der Unglücksnachricht, die Bandholt unmittelbar vor der Heimkehr von Tante Schane erhalten hatte, daß Meta sterbenskrank sei, war er nicht nur in sich gekehrt und sackgrob – das pflegte er ja meistens zu sein – nein, er war in einen Zustand geraten, den noch niemand an ihm auf See gekannt hatte: seine eisige Ruhe hatte ihn verlassen, er war nervös geworden!

„Stüermann Negenmörder!“

„Kaptein?“

Bandholt hatte sich festgepflanzt; die Hände hinter dem Rücken gekreuzt, blickte er unter buschigen Brauen aus seinen tiefliegenden Augen in mürrischer Nachdenklichkeit in die Luft. Dann zeigte er kurz mit dem Daumen nach oben.

„Bramsegel bi!“

Negenmörder, auch ein erfahrener Seemann, wischte die Salzwassertropfen von seinen vorstehenden sommersprossigen Backenknochen und sah unruhig auf den Vorgesetzten. „Ick meen, wi hebbt all so to veel Segel, Kaptein.“

Bandholt schnitt, ohne eine Silbe zu erwidern, ein Gesicht, als ob er seinen Steuermann fressen wollte, deutete abermals energisch nach oben, spuckte aus und torkelte weiter.

Der Befehl wurde ausgeführt, aber wie Negenmörder sich schon gedacht hatte, kam die schwer arbeitende „Athapaska“ doch nicht schneller vom Fleck, und nach wenigen Minuten flog das Bramsegel in Fetzen davon.

Aber vorwärts, vorwärts, nicht beiliegen! Jede Stunde, die er verlor, erschien dem Kapitän unbezahlbar; je näher er der Heimat kam, desto aufgeregter war er geworden, – er mußte und mußte sein Kind noch einmal sehen! Jetzt schob er die Karte der Elbmündung zurück, die er eben in der Kajüte studiert hatte, und kletterte wieder an Deck, wo Negenmörder ab und zu den Leuten am Ruder beisprang. Auf Kopf und Schultern der Männer lag eine dicke Kruste von Schnee.

„Kaptein!“ schrie Negenmörder dem an eine Nagelbank sich festhaltenden Vorgesetzten durch das Toben von Wind und Wellen ins Ohr, „lang’ künnt wi nich mehr Kurs holen[1]!“

Bandholt nahm das Nachtglas, spähte nach Steuerbord aus und schwieg.

„Kaptein,“ begann Negenmörder wieder, „dat is nich üm mi – hier sünd wölk[2] an Bord, de Fru un Kinner hebbt! Jüst, wil Se an Ehr Kind denken, schullen[3] Se sick wat annehmen. So kamt wi nich lebenndi in de Elv herinner!“

„Wat, ünner Helgoland biedreihen[4]?“ schrie Bandholt. „Künnen Se dat, denn dohn Se dat!“

„Nee, Kaptein, ick kann ’t nich! Wenn ener dat noch kann, dann sünd Se dat alleen. Awerst ick glöw ok, wi hebbt nu all to lang dormit töwt[5].“

„Denn kümmt dat, hal mi de Deuwel, up ens herut!“


  1. halten.
  2. welche.
  3. sollten.
  4. beidrehen.
  5. gewartet.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 829. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_829.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2024)