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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

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Weihnachtsgeheimnisse.

Von Alexander Tille.

Wenn irgend eine Zeit im Jahre von Geheimnissen umsponnen ist, dann ist es die Weihnachtszeit. Wenn die Tage kürzer und kürzer werden und die Abende länger, wenn allabendlich die Lampe für Stunden im traulichen Kreise brennt, dann bereitet sich eine ganze Welt von Geheimnissen vor; heimlich beraten die Eltern, und die Kleinen flüstern, ratend, was es wohl zu Weihnachten geben werde, und ratschlagend, was sich Mutter wohl am meisten wünsche, einen gestrickten Waschlappen oder einen ausgesägten Zwirnwickel? Und wenn dann das Fest näher kommt und all die Pläne zu wohlvorbereiteten Ueberraschungen ausreifen, hüben die Arbeit wächst und drüben die Spannung, wenn die „gute Stube“ beharrlich verschlossen bleibt, und die Kleinen früh unterm Sofatisch der Wohnstube bunte Papierschnitzel und Spuren von Flittergold finden; wenn spät abends noch die Hausthür klingelt und frühmorgens eine wohlverschlossene Kiste im Hausflur steht, deren Herkunft unbekannt bleibt; und wenn dann der Heilige Abend kommt, mit seiner letzten großen Aufregung; wenn die Kleinen zusammen im verschlossenen Zimmer hocken, während es draußen rumpelt und poltert und pocht und stößt – dann ist der große Tag der Weihnachtsgeheimnisse erst recht gekommen und zugleich der Tag ihres Endes. Dann plaudert der Bescherungstisch rücksichtslos alles aus, und die Weihnachtsgeheimnisse verduften mit dem Rauch, der von den leise glimmenden Tannenzweigen aufsteigt. Andere treten an ihre Stelle: Ob der heilige Christ wirklich all die schönen Sachen gebracht hat? Also ist es doch nicht wahr gewesen, daß er dies Jahr wegen des Glatteises nicht hat umfahren können, und schließlich hat sein Esel dabei gar kein Bein gebrochen? Und der Knecht Ruprecht? Ob das wirklich der echte Knecht Ruprecht gewesen ist? Er spricht doch wirklich dem Onkel recht ähnlich.

Einsame Weihnachten.
Nach einer Originalzeichnung von F. Müller-Münster.

Das sind die Weihnachtsgeheimnisse der Kleinen, aber auch für die Großen giebt es noch solche, nachdem die Klingel zum Bescherungstisch gerufen hat. Wenn das Weihnachtsfest reden könnte, so könnte es ihnen mancherlei aus seinem Leben berichten, das sie arg verwundern würde. Wenn es vor sie hinträte und fragte: wißt Ihr denn, wie alt ich hin – wer würde ihm antworten: Du bist heute 1540 Jahre alt, heute ist ja Dein Geburtstag! Dann würde das Weihnachtsfest sagen: Ja, das ist richtig. Und ich will Euch erzählen wie das kam, daß ich im Jahre 354 zu Rom geboren wurde. Jahrhundertelang hatten sich die Christen nicht um den Geburtstag ihres Religionstifters gekümmert. Niemand wußte ihn, und niemand weiß ihn heute; er ist eine jener geschichtlichen Thatsachen, die rettungslos im Meer der Vergessenheit untergegangen sind. Auf den 17. November setzte ihn der eine, auf den 28. März der andere, und einer hatte dazu so wenig Grund wie der andere. Da kam im Anfange des vierten Jahrhunderts eine neue Ansicht auf. Hatte man bis dahin den 6. Januar als den Gedenktag der Taufe Christi im Jordan gefeiert, so beschloß der römische Bischof Liberius nunmehr, auch seiner Geburt an einem kirchlichen Festtage zu gedenken, und setzte diesen auf den 25. Dezember, den der volkstümliche Kalender als den Wintersonnenwendtag, als den Tag der unbesiegten Sonne auszeichnete. Am 25. Dezember 354 ließ er ihn in der alten Hauptstadt des römischen Reiches zum erstenmal mit allem kirchlichen Pomp feiern und in den Kalender unter diesem Tage eintragen: „Christus geboren zu Bethlehem in Judäa.“ Damit war das Jesusgeburtsfest geschaffen, und es bedurfte nur noch seiner Ausbreitung über die christlichen Lande am Mittelmeer und später, als das Christentum auch zu den Germanen weiter nordwärts gekommen war, auch dorthin und noch später weiter über den Ocean in ferne Erdteile.

Aber kannten denn die Germanen Deutschlands nicht schon ein Fest am 25. Dezember, das Fest der Wintersonnenwende, das Julfest? Auch darauf kann das Weihnachtsfest eine bündige Antwort geben. Nein! Ein deutsches Wintersonnwendfest hat es in geschichtlicher Zeit niemals gegeben; die alten Deutschen kannten keine Art Sonnendienst und teilten ihr Jahr nicht nach astronomischen Beobachtungen, sondern nach den Wirtschaftsverhältnissen ein in Frühsommer, Spätsommer und Winter. Eine vierte Jahreszeit wie die Römer kannten sie nicht. Sie feierten am 25. Dezember niemals ein Wintersonnwendfest und wußten von einer Sonnenwende überhaupt nichts. Dafür hatten sie zu Winters Anfang eine große Festzeit, deren Reste uns im Martinstag, Andreastag und Nikolaustag erhalten sind, eine große Schlachtzeit, in der alles Vieh, das sie nicht überwintern konnten, dem Beile zum Opfer fiel. Erst im fünfzehnten Jahrhundert gelang es den Bemühungen der christliche Kirche, ihr Jesusgeburtsfest ein wenig volkstümlicher zu gestalten, indem sie einen Teil der auf den Winteranfang bezüglichen Bräuche und Anschauungen von jenen Festen herübernahm und es so zur deutschen Weihnacht umbildete. Das deutsche Wintersonnwendfest ist das Erzeugnis der Phantasie einiger Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts, denen eine nunmehr gänzlich veraltete Richtung der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_837.jpg&oldid=- (Version vom 22.9.2023)