Seite:Die Gartenlaube (1894) 848.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Für unseres Künstlers komische Rollen gilt das Gleiche, was über seine tragischen gesagt wurde. Auch hier begegnen wir einer gesteigerten Nerventhätigkeit, welche die Augen funkeln macht und alle Muskeln in Spannung hält. Mitterwurzers tolle Laune als Conrad Bolz in Freytags „Journalisten“, als Hagen in des lieben, alten Benedix’ „Gefängnis“ und in hundert andern Lustspielen wirkt geradezu zündend; niemand vermag sich der mitreißenden Wirkung zu entziehen, solange die gehobene Stimmung vorhält. Ein Riß – und der elektrische Strom zwischen Bühne und Zuschauerraum ist unterbrochen. Man begreift nicht, wie man über dieses Stück, wie man über diesen Darsteller jemals hat lachen können.

Unseres Künstlers Vater, der berühmte Dresdener Sänger Anton Mitterwurzer, war vor seinem Tode geistiger Umnachtung verfallen. Unter den traurigsten Jugendeindrücken begann Friedrichs künstlerische Laufbahn. Seine Mutter studierte vom Krankenbette aus mit dem Anfänger die ersten Rollen. Wenn der Jüngling verzagen wollte, bat ihn die Mutter, auf Gott zu vertrauen. In der That hatte er in den ersten Jahren seines Künstlertums solch Gottvertrauen ganz besonders nötig. Nach Gastspielen in Meißen und Tetschen fand er Stellungen in Liegnitz und Plauen.

Ging es dort noch leidlich, so folgte dann in allen größeren Städten, in Berlin, Breslau und Leipzig, ein Durchfall dem andern. „In Breslau habe ich seither nie rechten Erfolg,“ behauptet Mitterwurzer. Hülsen löste den für Berlin schon abgeschlossenen Vertrag. Nach Dresden, München, Kassel wandte sich der junge Mann vergebens, er fand keine Stellung. Da wagte es Laube noch einmal in Leipzig. Posa und Coriolan neben zahlreichen Lustspiel- und Possenfiguren trugen dem Künstler Erfolge ein, und der Weg zum Wiener Burgtheater war geebnet. Zwar interessierte Mitterwurzer die Wiener lebhaft, aber, was uns heute als edler Wein mundet, war damals noch gährender Most. Bei der Generalprobe von Goethes „Faust“ fragte der höfische Direktor Dingelstedt: „Werden Sie abends den Mephisto ebenso spielen, lieber Mitterwurzer?“ – „Gewiß, Herr Hofrat.“ – „Dann werden Sie durchfallen,“ schmunzelte Baron Dingelstedt. – „Er hat natürlich recht gehabt,“ fügt Mitterwurzer der Erzählung dieser Episode trocken hinzu. Immer freilich konnte er dem spottlustigen Herrn Hofrat nicht Recht geben. Das Verhältnis zwischen beiden wurde so unleidlich, daß Mitterwurzer beim Kaiser Franz Joseph seine Entlassung aus dem Burgtheater als Gnade erbat. Dann wirkte er in Wien am Ringtheater, am Stadttheater, den beiden inzwischen abgebrannten, und weiter am Carltheater insbesondere als Regisseur verdienstlich. Auch in dieser Eigenschaft galt ihm ein Laubesches Leitwort: „Es muß Hindernisse geben auf dem Theater!“ Wie er danach das Bühnenbild stets durch realistische Ausstattung lebendig zu gestalten wußte, so beschleunigte er auch in realistischer Weise das Tempo der Rede und verbannte dadurch die Langeweile aus dem deutschen Lustspiel.

Nach langen, ebenso erfolgreichen, wie für sein Künstlertum gefahrvollen Gastreisen gehört Mitterwurzer heute wiederum dem Burgtheater an. Den Zwiespalt in seinem Wesen hat er zu meistern gelernt, den Gefahren des Virtuosentums ist er entronnen, er steht im Zenit seiner Laufbahn. Es ist ein entschiedenes Verdienst des jetzigen Burgtheaterdirektors Dr. Burckhard, daß er der ersten deutschen Bühne diesen genialen Schauspieler zurückgewonnen hat. Und könnte Altmeister Laube jene Reihe großdurchgeführter Gestalten sehen, die uns Mitterwurzer als „jüngster“ Hofburgschauspieler bewundern läßt, er würde gerne eingestehen, daß sein bedeutendster Schüler heute Besseres spielen kann als – „abbrüchige Charaktere“. Gerhard Ramberg.     


Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der Böse.

Von Hermine Villinger. Mit Illustration von A. Seligmann.

Die unterhalb des Ortlers, stille Menschen, die mit der Natur um ihr bißchen Wiesenland kämpften, was wußten die in ihrer Weltabgeschiedenheit von Leidenschaften? Außer etwa, wenn dem Aelpler in der Bergeinsamkeit einmal ein Gemsbock in den Weg lief; dieser Anfechtung vermochte keiner zu widerstehen. Im übrigen ordneten sie sich in allen Dingen ihrem Kuraten unter, und keiner der neunundneunzig zur Kuratie gehörenden Seelen wäre es je eingefallen, irgend etwas besser wissen zu wollen als er, oder sich gar aus dem engen Hochthal hinauszusehnen.

Einem einzigen Burschen nur war das ewige Einerlei eines Tages nicht mehr ganz recht gewesen; er litt freilich an einem Brustübel, wohl die Hauptursache seiner Unzufriedenheit; auch hatte ihm ein Tourist gesagt – solche waren zur Zeit noch gar seltene Erscheinungen im Suldenthal – drüben im Welschland sei ewiger Sommer und der mache alle Kranken gesund.

Also geschah’s, daß zum erstenmal seit Menschengedenken einer von Sulden die Heimat verließ. Es litt ihn aber nicht lang draußen; schon nach wenigen Jahren kehrte er zurück, gesund, mit einem dunkeläugigen Weib, und es gab großes Aufsehen im Ort, weil die Fremde am helllichten Werktag goldene Ohrringe trug und ein farbiges Gehänge um den Hals. Dieser Uebermut hielt indes nur während der zwei Sommermonate an; der Welschen war’s zu kalt da oben, und nachdem sie einen Buben mit kohlschwarzen Augen zur Welt gebracht, trug man sie auf den kahlen Gottesacker, wo außer ein paar dürren Lärchlein nichts Grünes fortkam.

Der kleine Hans Sepp wuchs auf; wenn die Witwe vom Nachbarhof ihren Aloisl herüber schickte, damit die Kinder zusammen spielten, bekam sie ihren Buben nie anders als bitterlich weinend zurück und in einem Zustand, der die Thränen des Aloisl vollständig rechfertigte.

Hörte der Herr Kurat von dem gewaltthätigen Wesen des Hans Sepp, dann lachte er, daß seine sämtlichen Zahnlücken zum Vorschein kamen, und meinte, mit seinen kleinen Augen lustig zwinkernd: er soll mir nur in die Schule kommen!

Als aber das welsche Kind auf der Schulbank saß, war dem geistlichen Herrn, der zugleich das Lehramt in seiner Gemeinde verwaltete, das Lachen vergangen. Wenn er sonst nach zweistündiger Schulzeit über sein wellenförmiges Wiesenland schritt, das Brevier in der Hand und seine Gebete murmelnd, den Kopf tief drin in den Schultern, mit seinen langen dünnen schwarz bestrumpften Beinen wie ein Storch ausschreitend, da hatte er an nichts weiter gedacht als an den möglichen Heusegen, hatte ihn schon aufgespeichert gesehen an Ort und Stelle und vergnügt zur Sonne hinaufgeblinzelt: nur zu, nur recht kräftig, daß es ausgiebt!

Jezt aber fühlte sich der Herr Kurat gezwungen, immer wieder an den kleinen Kerl da auf der Schulbank zu denken, mit dem er gegen alles Herkommen nicht fertig wurde. Ein Kind, das auf die Lehre, Gott habe die Welt in sechs Tagen erschaffen, verächtlich aus der Mitte seiner Genossen rief, die paar Hütten hätte er in einer Stunde fertig gehabt – ein Kind mit großen sehnsuchtsvollen Augen, die unter einem Wust blonder Haare wie zwei feurige Kohlen hervorglühten und alles haben wollten, was ihnen begehrenswert erschien; ein kleiner heißer Streiter um sein eigenes Selbst, das die Leute um ihn her nicht begriffen und einzuengen suchten, wie dem Gebirgsbach geschah, wenn er im Frühjahr von oben herunterbrauste und den Frieden des Thales gefährdete. Aber ihm, dem Bach, grub man ein Bett, wies ihm den Weg, daß er sich austoben und in wildem Ungestüm dem Thale zueilen konnte. Dem Hans Sepp wurde keine Bahn eröffnet, der thatendurstige kleine Mensch sollte sich in das beschauliche Leben fügen, wie man’s da oben angesichts des ewigen Winters nicht anders kannte; die grenzenlose Einsamkeit, die nie ein Vogelgezwitscher belebte, zeitigte nur stille Menschen; selbst der Kinder Lust klang wie gedämpft, wenn sie zu Füßen der Bergriesen ihre Spiele trieben. Sie nannten Hans Sepp den „Bösen“ und stoben alle auseinander, wenn er daher kam, immer bereit, irgend eine in seinen Augen notwendige Strafe an ihnen zu vollziehen, zu welchem Amte er sich kraft seiner Selbstherrlichkeit berufen fühlte.

Nur mit dem Vater machte er eine Ausnahme; der litt wieder an seinem Brustübel, und es lag ihm den ganzen Tag nichts anderes im Sinn, als sich jenseit der Berge wieder die Gesundheit zu holen. Davon sprachen die beiden den lieben langen Tag und freuten sich und lebten so mit ihrer Sehnsucht ein reiches inneres Leben, bis der Vater ein paar Gulden beisammen hatte. Da machten sie sich auf, kamen aber nicht weit, denn der Mann brach schon unterwegs an einem Blutsturz zusammen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 848. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_848.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)