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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nr. 1.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Buen Retiro.

Von Marie Bernhard.


1.

Eine hübsche lange Zeit ist’s her, seitdem ich Deinen letzten Brief erhielt, lieber Freund! Soeben lese ich ihn nochmals durch und muß lachen über die vielen Vorwürfe, die er enthält. „Welcher Teufel reitet Dich,“ schreibst Du, „diese Marotte in Scene zu setzen, Dich in die Einsamkeit vergraben, den Einsiedler spielen zu wollen? Ein Mensch wie Du, in den besten Mannesjahren, geradezu ausersehen, im öffentlichen Leben eine Rolle zu spielen“ und so weiter! –

Entschuldige, mein Alter, aber das stimmt nun nicht, stimmt alles nicht! Erstens setze ich keine „Marotte“ in Scene, sondern einen seit langen Jahren sorgfältig erwogenen, zärtlich gehegten Lieblingswunsch, den Du recht gut kennen mußt, der Dich folglich nicht zum Staunen berechtigt. Zweitens vergrabe ich mich keineswegs in die Einsamkeit, sondern ich sitze in unmittelbarer Nähe einer Großstadt, habe kaum eine halbe Stunde bis zu einem ihrer zahlreichen Vororte zu gehen, kann dort in die Pferdebahn steigen und befinde mich in weiteren zwanzig Minuten mitten im fieberhaft schlagenden Herzen besagter Großstadt, drittens denke ich durchaus nicht den Einsiedler zu spielen, sondern so oft es mich danach gelüstet, und das kann vielleicht recht häufig geschehen, den Verkehr mit allerlei Leuten, mit Kollegen und Bekannten, zu pflegen, die Museen zu bereisen, Konzerte und Theater zu besuchen und gelegentlich, wenn ich einmal sehr gute Gesellschaft treffe, ein paar Tage ganz und gar in der Stadt zuzubringen. Was endlich die „besten Mannesjahre“ und die „Rolle im öffentlichen Leben“ betrifft … guter Gott!

Du hast mich seit fünf, sechs Jahren nicht gesehen, Alter. Deine freundschaftlich gefärbte Erinnerung hält ein Bild meines Aussehens und Wesens fest, wie es damals war. Du kannst mir’s aber auf mein Wort glauben – ich habe mich gewaltig verändert seitdem. Sei es, daß ich die gewisse Altersgrenze überschritten habe, die selten jemand ungestraft passiert, sei es, daß die Nachwirkungen der aufregenden Ereignisse, die Du zum Teil mit mir erlebtest, mir so übel mitgespielt haben, mit einem Wort, ich bin alt geworden, guter Freund! Ich fühle mich durchaus nicht berufen, irgend welche „Rolle“ zu spielen, im öffentlichen und politischen Leben nun schon zu allerletzt! Ich setze nicht mehr Leitartikel,


Willkommen!
Nach dem Gemälde von O. Kirberg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 1. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_001.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2023)