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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

eine Rolle dabei übernimmt. Ja, es werden sogar Lieder dramatisiert, wobei die Kinder sich vorzüglich anstellen. Der etwas auffällige Mangel an Grazie wird aufgewogen durch die allerliebste Naivetät, die den sächsischen Volksstamm so vorzüglich kleidet und seine Uebergangsstellung zwischen Nord und Süd bezeichnet.

Um 7 Uhr hat das Lachen und die Lustigkeit ein Ende, es wird ein Gebet gesprochen, die Lampen verlöschen und die Kinder gehen nach Hause, nachdem sie von der Lehrerin mit einem hübschen Knix Abschied genommen haben. Vater und Mutter sind nun auch heimgekehrt und werden erfreut mit Erzählungen aus dem Hort.

Da steigt zum Schluß vor meinem inneren Auge noch eine Vision auf, ein Bild, wie es sich vor wenig Wochen verwirklicht hat: es ist der 22. Dezember und im Hort ist Weihnachten! Ich sehe den hellstrahlenden Baum, von den Kindern unter Anleitung der Lehrerin selbst geputzt, auf dem Podium stehen, ich erblicke lange Tische, belegt mit einfachen, praktischen und doch hübschen Geschenken, vor jedem Platz einen Stollen. Den Hintergrund bilden die Vorstandsdamen und die Helferinnen.

Da, horch! aus dem Schulzimmer tönt Gesang und herein, paarweise geordnet, die Kleinsten voran, schreitet die Kinderschar unter dem Gesang der lieblichen Weise: „Stille Nacht, heilige Nacht,“ – fürwahr ein rührender, ergreifender Anblick. Dann wird die Geburt des Heilandes in Versen geschildert, fromme Weihnachtsklänge tönen dazwischen, und eine der Vorstandsdamen spricht zu den Kindern einige freundliche, herzliche Worte der Liebe und der Ermahnung und führt die Kinder zu ihren Plätzen. Nun, welch’ ein Jubel! Das Herz geht mir auf, sehe ich in diese strahlenden Augen, in diese Welt unbefangener Fröhlichkeit. Möchte den Kindern der lichte Tannenbaum nachleuchten in ihrem Herzen durchs ganze Jahr und ihnen die Dunkelheit, das Elend zu Haus überstrahlen!

Noch einen Augenblick verweilen wir, denn ich sehe, der Vorstand hat heute die Milch in Chokolade mit Zwieback verwandelt, und da werden sie schon hereingetragen die großen Kannen, aus denen die Lehrerinnen, Helferinnen und die ältesten Schülerinnen das köstliche Getränk schenken. Nun kann ich mich von dem holden Bilde der Kinder wenden, ich glaube unbemerkt, denn sie sind ganz in ihre Thätigkeit versunken. Ich schließe mit dem Wunsch, daß Allen zum letzten Weihnachtsfest so viel beglückte Kindergesichter entgegengelacht haben möchten wie uns, dem Vorstand der Leipziger Mädchenhorte.

     Frau L. Windscheid.
     Vorsitzende des Vereins der Leipziger Mädchenhorte.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der Auswanderer-Bahnhof in Ruhleben.

Von Richard Nordhausen.0 Mit Abbildungen von W. Zehme.


Wenn einer unserer Landsleute heute das deutsche Vaterland als Auswanderer verläßt, befindet er sich fast regelmäßig in leidlich geordneten Verhältnissen und steht gemeinhin in der Blüte seines Lebens. Denn abgesehen davon, daß die Vereinigten Staaten, wohin die meisten Europamüden sich wenden, von jedem den Nachweis eines kleinen Vermögens verlangen, Mittellose aber durchaus nicht aufnehmen, daß sie ferner Krüppel und Invaliden unbarmherzig von der Landung ausschließen, abgesehen davon bedarf es doch eines gewissen Wohlstandes, voller Körperkraft und vielen frohen Mutes, um die Kosten und Strapazen der Seefahrt, die erste arbeitslose Zeit in der Neuen Welt, die darauf folgenden Jahre harter Arbeit ungefährdet zu überstehen. Den ganz Armen und Elenden steht unter den heutigen Verhältnissen das Auswandern als Weg zur Rettung nicht mehr offen. – Das sind die Gedanken, die den bewegen, der die Baracken des Auswanderer-Bahnhofes Ruhleben bei Berlin besucht. Trostlos und einförmig liegen diese Bauten in trostloser, einförmiger Gegend da. Schwarze Zäune und dürres Heideland sperren das Gebiet von der Außenwelt ab und streng wird darüber gewacht, daß kein Unbefugter es betritt. Zur Rechten erheben sich die Bahnhofsanlagen und dahinter die Wälle der festen Stadt Spandau, den Auswanderern vielleicht ein Sinnbild des Lebens, dem sie jetzt entrinnen wollen; vom Süden herauf grüßen die blauschwarzen Kiefernwipfel des Grunewalds wie ein Land der Verheißung, der Hoffnung und der Freiheit.

Im Wartesaal.

Bahnhof Ruhleben ist zur Entlastung des Berliner Bahnverkehrs vom Auswanderer-Transport erbaut und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 140. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_140.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2024)