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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)


Schwester Brigitte.

Novelle von Otto von Leitgeb.


1.

Der Kampf war beendet. Zwei Tage lang hatten die Truppen in zerstreuten Gefechten gerungen, den Feind aus der bedrohlichen Stellung zu verdrängen. Zwei Tage lang waren die kleine Stadt und die Ortschaften rings umher in schweren Pulverdampf gehüllt gewesen, so daß die Augustsonne wie durch ein weißes Nebelmeer brach. Und heute war die Entscheidung gefallen. Zahlreich waren auf beiden Seiten die Opfer an Mannschaft, an Pferden, an Equipage. Die weiten Felderstrecken zwischen dem Fluß und den Waldhügeln waren zerstört, zerstampft, von den Geschossen zerwühlt und vernichtet. Wo vor wenigen Tagen noch die wogende Saat geprangt, lag ein verwüstetes Blachfeld. Viele Gehöfte, die in dem von den Batterien bestrichenen Gebiete gestanden, lagen in Trümmer zerschossen andere waren geräumt und verlassen. Furchtbare Opfer hatte der Sieg gekostet, aber er war unser.

Eine feindliche Batterie, in halber Höhe am Ausgange der Thalsohle aufgefahren, hatte den Abzug der Truppen gedeckt, so daß an eine Verfolgung nicht gedacht werden konnte. Die Einnahme dieser Batterie war die letzte schwere Aufgabe der Sieger gewesen. Dreimal schmetterten die Trompeten die Signale zum Sturm, dreimal fegten die blitzenden Salven aus der Geschützreihe die Stürmenden zurück, ein Knäuel von Toten und ächzenden Verwundeten - alles hinabkollernd durchs Gebüsch, über die Grashänge, ins Bachbett. Die Batterie ist zu nehmen, um jeden Preis! - und das vierte Mal gelang es. Unter dem gellenden Hornruf der Signale rückten die Bataillone geschlossen vor, über die Steine, durchs Jungholz, durch Dorngestrüpp, beim Krachen der Geschütze, im prasselnden Gewehrfeuer. Ein letzter furchtbarer Anprall, das dumpfe Getöse des Handgemenges an den aufgeworfenen Schanzgräben, abgerissene Hornrufe, wie ein schwirrender Kampfschrei - und dann schwiegen die Geschütze plötzlich, nur vereiuzelt tönte hin und wider noch ein Gewehrschuß - die Batterie war genommen, die Bemannung niedergemacht oder gefangen. - Aber um welchen Preis! - Innerhalb der Schanze lag alles wirr durcheinander - Tote, Verwundete, umgestürzte Munitionskarren, zertrümmerte Lafetten, verendende Pferde, Waffen, Monturfetzen. Wo die Sieger das letzte Geschütz genommen, waren breite dunkle Flecken am Boden, wie auf einem Schlachtplatz. Zwei Kanoniere, die man nicht von ihrem Platze zu reißen vermocht, und die das Stück bis zum letzten Augenblick bedient hatteu, lagen da, der eine auf dem Rücken, langausgestreckt, den blutenden Kopf mit dem Todesgesicht am Fuß der Lafette, der andere, mit einem Fetzen in der starren Hand, ein formloser Klumpen, unter dem Geschützrohr.

Die Truppenreste sammelten sich und rückten ab. Ein paar Detachements wurden vorgeschoben und besetzten den Straßenzug. Im blutigroten Schein der tiefstehenden Sonne zogen lange Wagenkolonnen über die Walstatt - Geschütze, abrückende Munitionszüge, Gepäck- und Proviantwagen, dann Sanitätskolonnen. Und letztere blieben da, zerstreuten sich über das Schlachtfeld, Aerzte, Krankenwärter, Träger, barmherzige Schwestern. Langsam, in kleinen Abteilungen fuhren die Wagen mit den Toten und Verwundeten ab, eigenes Fuhrwerk und anderes aller Art, wie es zu requirieren gewesen: Mietwagen, strohbedeckte Bauernkarren, Leiterwagen. Langsam fuhren sie die Chaussee dahin, dem Städtchen zu. -

Eine Strecke Weges vor diesem, in einem weitläufigen offenen Garten, wo große Baumgruppen stehen, liegt zwischen Eichen und Tannen ein einstöckiges altmodisches Landhaus. Im Erdgeschoß war eine Ambulanz errichtet worden, die jetzt aungelassen und zum Lazaret nach der Stadt gebracht werden sollte. Das alte Paar, das einsam in dem Hause lebte, ein strammer hagerer Herr und eine silberhaarige rüstige Greisin, hatten sich vielen Dank verdient in diesen schweren Stunden. Jetzt sollte die Sorge und Unruhe, die in ihr stilles Leben gefallen war, wieder weggenommen werden. Nur einer, ein Schwerverwundeter, mußte hier belassen werden. Die alten Leute fanden es natürlich und sagten ihre beste Pflege zu. „Es ist der Lieuteuaut Georg Werter von den Sechser-Dragonern,“ sagte der Stabsarzt. „Sie wissen, vor dem Sturm auf die Batterie - eine Kartätsche hat ihm das Pferd unterm Leib weggenommen und er selbst ist durch einen Splitter auf der Brust verwundet, sehr schwer -“ der Stabsarzt sah den alten Herrn mit einem bedeutsamen Blicke an. „Es wäre ja möglich, daß er davonkommt, stark genug wäre er dazu. - Der muß hier bleiben, Herr Landrat. Einer der Aerzte wird täglich heraufkommen, früh und abends, und ich werde Ihnen eine Wärterin schicken, die hier zu bleiben hat. Haben Sie niemand im Haus, der sie in den nötigen Stunden ablösen könnte?“

„O ja, Frau Stübel, unsere Beschließerin; sie ist geschickt.“

„Sehr gut,“ sagte der Stabsarzt. „Das ist mir angenehm; wir haben keinen Ueberschuß. Ich werde gleich eine tüchtige verläßliche Person heraufbeordern. Gleich nach meiner Hinkunft will ich einen Zettel schreiben, daß Schwester Brigitte sich zwecks Pflege eines Schwerblessierten zu Landrat von Kolbing zu begeben und bis auf weiteres da zu verbleiben hat - bis auf weiteres. Es ist nur noch der Patient zu befragen, ob und wo er Eltern, Geschwister oder sonst jemand Nahestehenden hat - der Form wegen, Herr Landrat.“

Die Anfrage hatte keinen Erfolg. Lieutenant Georg Werter hatte niemand, keine Eltern, keine Geschwister. Er wurde in dem Eckzimmer des oberen Geschosses gebettet, dessen Fenster in den Garten gingen und wo man das Rollen der Wagen, die passierenden Truppen und Pferde von der Landstraße nicht hörte.

Schwester Brigitte kam. Es war ein hochgewachsenes Mädchen von schlanker Gestalt mit stillen Zügen, denen die von Luft und Wetter gebräunten Wangen den darin ausgeprägten Ernst verstärkten. Sie kam in einem kleinen Wägelchen angefahren und fand den Weg durch die leere Thorhalle über die Treppe zu den Wohnräumen hinauf. Oben begegnete ihr die alte Frau und sah das junge Wesen mit einer Art neugieriger Teilnahme an, wie Schwester Brigitte dastand in ihrem schwarzen Gewande, ein kleines Täschchen in der Hand, freundlich heraufblickend unter dem weißen Stirnbande ihres Schleiers. Sie wußte schon, wie es sich mit dem Kranken verhalte. Der Arzt hatte sie unterrichtet. So bat sie denn, ihm ihre Ankunft zu melden, damit er nicht überrascht werde.

„Aber Sie werden doch erst ablegen wollen?“ Schwester Brigitte lächelte ein wenig.

„Die kleine Tasche - ich lege sie indes hierher!“

Sie reichte Georg die Hand und beugte sich zu ihm nieder, einen Gruß in den Worten wie ihn die lange Uebung ihr gegeben. In ihre tiefe Stimme hatte die Natur selbst einen tröstlichen Klang gelegt. Des Kranken langsamer Blick haftete, den neuen Eindruck zu erfassen, auf den fremden Zügen. Von der untergehenden Sonne fielen die tiefgefärbten Strahlen seitwärts nach seinem Lager zu und gossen über Schwester Brigittens Gesicht einen dunkelroten Schein.

Sie sprach nichts weiter, um ihn nicht selbst zum Sprechen anzuregen, aber sie machte sich gleich zu schaffen an seinem Kissen, an dem Tischchen auf dem die Medikamente standen und das Verbandzeug, die Lampe für die Nacht. Seine Blicke folgten ihren Bewegungen durchs Zimmer. Es war eine Zerstreuung, eine Abwechslung. Und dann schloß er müde die Augen.

Die Schwester stand am Fußende des Bettes und betrachtete nachdenklich das Gesicht des Schlummernden. Sie hatte die Hände im Schoß gefaltet, und während sie unbeweglich stand, senkte sich ihr Kopf tief herab. Dann hob sie die Arme und kreuzte sie fest über ihrem Busen, fast, als sollte diese Gebärde sie in einem stummen Gebete stützen.

Gegen den verbleichenden Abendhimmel sah Georg ihre Silhouette am Fenster, durch das man ein paar Baumwipfel und in der Ferne das schwache Profil des Hügelzuges erblickte.

Mit der Dämmerung ward es still. Das Landhaus war vom Militär geräumt, der Verkehr auf der Straße hörte auf. Von draußen wo der Kampf des Tages seine blutigen Spuren hinterlassen, sah man hin und herwandernde Lichter durch die Dunkelheit herüberschimmern.

Dann verstummte allmählich auch die geringe Bewegung im

Hause. Gegen neun kam der Arzt mit flüchtigem Schritt und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 268. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_268.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)