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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

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Tiroler „Schwabenkinder“.

Von Arthur Achleitner. Mit Abbildungen von E. Klein.


Was die „Sachsengängerei“ von erwachsenen ländlichen Arbeitern aus dem Osten im deutschen Norden ist, das ist im Süden die Entsendung von halbwüchsigen Kindern aus Tirol und Vorarlberg nach den deutschen Uferstaaten am Bodensee. „Schwabenkinder“ werden die Kinder armer Leute im Vintschgau, Oberinnthal und den Seitenthälern Paznaun und Stanzerthal genannt, welche alljährlich im Frühling ins sogenannte Schwabenland wandern, um sich dort als Viehhirten, als Kindser (d. h. zur Beaufsichtigung ganz kleiner Bauernkinder) und als Arbeiter für kleinere Feldarbeit zu verdingen. Die „Gartenlaube“ hat vor Jahren die Uebelstände geschildert, welche diesem Brauche damals noch anhafteten, als noch „Werber“ diese Kinder aus den Heimatsthälern fortlockten und der Marsch über die noch verschneite Höhe des Arlbergpasses sie der Unbill von Föhn und Frühlingsstürmen aussetzte. Die jungen Saison-Auswanderer erhielten in früheren Zeiten dort, wo sie in Stelle traten, Kost und Kleider, und in besonders günstigen Fällen brachten sie im Spätherbst wohl auch einige Thaler in die tirolische Heimat zurück. Besorgte Eltern, denen die Kinder an der Suppenschüssel eine zu große Last gewesen waren, begleiteten die Schwabenkinder wohl bis an den Bodensee; meist aber verbot die heimische Armut selbst die Reisespesen dieses Geleits, und die Kinderzüge wurden dann von den „Werbern“ oder nur von den älteren der Schar ins Schwabenland geführt.

Der Brauch der Kinderentsendung aus Westtirol ins südliche Deutschland ist im Laufe der Zeit so allgemein geworden, daß die Behörden der Angelegenheit ihre Aufmerksamkeit widmen mußten. Zu verbieten war indes die Kinderverleihung nicht; denn in den meisten Fällen zwangen geradezu die ärmlichen Verhältnisse der Heimat zu diesem Mittel der Entlastung und des Nebenerwerbs. Der Name „Schwabenkind“ ist in Tirol gleichbedeutend mit bitterer Armut geworden, und wenn ein Beamter oder Geistlicher dort sagt, es war ein „Schwabenkind“, so ist damit eine freudlose, an Entbehrungen aller Art reiche Jugendzeit zur Genüge gekennzeichnet. Mehr gezwungen als freiwillig bestimmte dann der Landesschulrat von Tirol im Verordnungswege, daß die armen Kinder der Thäler Vintschgau, Paznaun und Stanz offiziell vom 19. März bis 1. November vom Schulbesuch befreit werden unter der Bedingung, daß diese Schwabenkinder nach vollendetem vierzehnten Lebensjahr noch zwei Jahre die Feiertagsschule besuchen, welche in Tirol an allen Sonntagen von Allerheiligen bis Georgi abgehalten wird. Mit dieser Verordnung ist in Tirol der uralte Brauch der Kinderentsendung gewissermaßen behördlich sanktioniert worden, aber „drüben im Schwabenland“ blieben die Kinder schutzlos und in manchen Fällen der Willkür schwäbischer Bauern überantwortet. Seit einigen Jahren ist aber auch hierin ein Wandel zum Besseren geschaffen worden durch Gründung eines Vereines, welcher sich des geistigen und leiblichen Wohles dieser jugendlichen Arbeiter annimmt. Kaplan V. Schöpf in Schnann rief diesen Verein ins Leben und der tirolische Landtag beschloß sofort, ihn durch einen ansehnlichen Jahresbeitrag zu unterstützen, und der Bischof von Brixen nahm ihn unter sein Protektorat, wodurch dem Verein manche Zuwendung zu teil ward.

Eine gründliche Regelung hat durch diesen Verein die ganze Reiseveranstaltung der Schwabenkinder erfahren. Durch das Entstehen der Arlbergbahn wurde die Möglichkeit gegeben, diese Ausfahrt weit bequemer denn früher zu gestalten. In der Gegenwart sammeln sich die Kinder aus den genannten Thälern im Marktflecken Landeck, wo sie vom „Vereinskaplan“, einem dafür bestellten Geistlichen, und einem Lehrer in Empfang genommen, gestärkt und dann auf die Eisenbahn gebracht werden. Das Bergblut der jungen Tiroler verleugnet sich auch bei dieser Abschiedsscene nicht; die Buben, die kurz vorher noch Thränen am Mutterhalse vergossen, jodeln und juchzen, als gingen sie wunder was für einem Freudenleben entgegen. Das ist ein Hüteschwenken und Jubilieren und Liedersingen aus junger Brust, daß der Belauscher solcher origineller Scenen leicht auf den Gedanken kommen könnte, es handle sich um eine Art Abreise in die – Ferienkolonie nach städtischen Begriffen. Wenn freilich Eltern ihre Kinder bis zum Eisenbahnzug begleiten und das Abfahrtssignal ertönt, dann giebt es neue Thränen, und manches tiefer veranlagte Kind fährt angstvoll der Schwabenwelt entgegen. Fröhliche Jauchzer aber übertönen die Seufzer, mag sich das kleine Mädchen dort in der Ecke und hier der pausbäckige Knirps nur ausweinen – jenseit des Arlberges lachen auch sie und strampeln mit den Füßen vor Freude, daß ihrer in Bregenz ein reichliches Abendessen harrt.

So laut es hergeht in den Eisenbahnwagen, in welchen oft an 70 und noch mehr Kinder untergebracht sind, so still wird es, wenn der Zug in den 10 Kilometer langen Arlbergtunnel einfährt. Die Neulinge kreischen im ersten Schrecken über den plötzlichen Eintritt dunkler Nacht auf und rücken ängstlich zusammen. Kaum aber umfängt helles Tageslicht wieder den rollenden Zug, da jubeln sie wieder, die kleinen Reisenden, und drücken die Näschen platt an den Wagenfenstern.

Ob diese Wanderkinder des Gefühles der zeitlichen Exilierung aus Armut sich bewußt sind? Ein Gewährsmann, der Gelegenheit hatte, mit vielen dieser Kinder in nähere Berührung zu treten, versichert, daß dieses Bewußtsein nur in seltenen Fällen vorhanden ist. Die meisten Kinder sind arm geboren und in Armut auferzogen; sie wissen es nicht anders, als daß sie wie die anderen Kinder auch zum Entbehren auf der Welt sind. War der Vater ein Schwabenkind, so muß es das Bübchen auch werden. Und wenn die erste Trennung kommt, so sagen die Eltern: „Was hat ein armer, ja selbst auch ein mittlerer Bauer bei uns denn Gutes? Er muß arbeiten, sich schinden und rackern von früh bis spät, und hat nichts als das bißchen schlechte Essen. Im Schwabenlande bekommt Ihr Kinder viel besser zu essen und habt nicht so viel und so streng zu arbeiten als bei uns manches Bauernkind.“ Es kommt übrigens vor, daß der Wandertrieb auch Kinder wohlhabender Eltern erfaßt, die dann ihre Angehörigen bestürmen, mit den ärmeren Spielkameraden ins Schwabenland ziehen zu dürfen. Meist sind aber diese Kinder wohlhabender Eltern bloß reiselustig, und wenn es in der Fremde an die Arbeit gehen soll, hat die Lust ein Ende. Wenn die Neugierde befriedigt und die erste Expedition glücklich verwunden ist, geht ein „besseres“, d. h. nicht armes Kind sicher nicht wieder als „Schwabenkind“ aus der Heimat.

In Bregenz hat der erste Teil der gemeinsamen Fahrt sein Ende. Hungrig, wie die Kinder sind, werden sie zunächst in einer Restauration untergebracht. Für die Atzung und ein Gläschen Wein an die Kleinen sorgt meist die Bregenzer Privatwohlthätigkeit, und falls die Spenden in einem Jahre nicht zur Deckung der Kosten ausreichen sollten, kommt die Vereinskasse dafür auf. Nach Beendigung des schlichten Mahles wird die Fahrt nach Ravensburg fortgesetzt.

Am Tage nach der Ankunft der tiroler Kinder wird auf einer der Hauptstraßen der Stadt gewissermaßen Truppenschau abgehalten. Die Kinder sind wie die Orgelpfeifen aufgestellt, haben ihren Schnerfer (Rucksack) auf dem Rücken oder ein Bündel in der Hand und stützen sich aus den kleinen Bergstecken, der an ihre alpine Heimat erinnert. Zu diesem „Kindermarkt“ finden sich nun die Bauern in großer Anzahl ein und beginnen unter Besichtigung der Kinder und Einschätzung ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit den Handel. Es beginnt ein lebhaftes Feilschen um den Sommerlohn und die älteren Kinder mit ihren schwäbischen Erfahrungen aus früheren Jahren nehmen sich tapfer der kleineren Kinder an, was mitunter einen gewaltigen Spektakel hervorruft, denn die tiroler Buben zeigen „Schneid’“! Pfarrer R. Schranz in Ischgl (Paznaun) weiß über einen Fall zu erzählen, der sich vor einigen Jahren in Ravensburg zu allgemeiner Heiterkeit abspielte. Unter den Schwabenkindern befand sich ein dreizehnjähriger tiroler Bub’, der im Jahre vorher von seinem schwäbischen Dienstgeber wegen schlechter Kost und übler Behandlung in Unfrieden geschieden und deshalb bei der neuen Verdingung nicht gesonnen war, bei demselben Bauer nochmals Dienst zu nehmen. Der Bub’ wollte aber auch seine Landsgenossen vor Ausbeutung durch jenen Bauer schützen, und um diesen „Schinder“ kenntlich zu machen, ersann er ein köstliches Mittel. „Nehmt vom Ringbauern keinen Dienst!“ lautete die Losung, und damit auch das kleinste Kind diesen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_282.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)