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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

unerforschlichen Ratschluß ihnen an diesem Freudenfeste nahm, statt gab. Betet für Eure Herrschaft, daß Gott sie trösten und ihnen den Frieden spenden möge, der höher ist als alle Vernnuft, als alle irdische Glückseligkeit. Und nun gehet hin und feiert das Fest mit Euren Lieben, die Gott Euch lange erhalten möge, feiert es nach Christenweise im Hause Gottes, der mit Euch sei jetzt und immerdar. Amen!“

So hat sie auch heute wieder gesprochen neben dem Gabentische, und über ihre vollen Wangen rinnen ein paar Thränen herab. Ditscha steht neben ihr; furchtbar blaß, die Hände gefaltet, scheint sie nichts von allem verstanden zu haben, denn als jetzt die Kinder den Schlußgesang anheben, erschrickt sie und ihre Augen kehren wie aus weiter Ferne zurück.

Hanne, die neben sie getreten ist, flüstert ihr zu: „Möchten nach Tisch zu gnä’ Fröln Klementine kommen, Fröln Ditscha!“

Sie nickt und starrt auf das Gewimmel, das sich jetzt um den Gabentisch drängt, und sie giebt ihre Hand in eine harte Rechte nach der andern, sie fühlt zitternde und kalte Hände und kleine heiße Kinderpatschen und hört immer wieder: „O, dank ock veelmal, und wünsch’ gesunde Fierdag!“

Endlich ist der letzte gegangen, das Küchenmädchen fegt die Krümel zusammen und richtet den Tisch zum Essen her, denn den Weihnachtskarpfen verzehren die Leute heute auch schon – morgen darf nichts Festliches sein im ganzen Hause.

Ditscha geht mit Tante Anna noch ins Dorf zu verschiedenen Kranken und Armen, Friedrich und der Kutscher mit ein paar Körben hinterher, auch bei Pastors wird das übliche Weihnachtspräsent abgeladen und ein kurzer Schwatz gemacht, dann wenden sie sich wieder dem Parke zu.

Im Gärtnerhause ist die gute Stube erleuchtet; Ditscha weiß, daß dort der Bräutigam eingekehrt ist, der „spanische Reitschulstallmeister“, wie Mutter Busch ihn nennt. Tante Anna geht ungeniert durch den Vorgarten und späht durchs Fenster. „’s ist die Möglichkeit,“ sagt sie zurückkommend zu Ditscha, die auf dem Wege stehen geblieben ist, „ordentlich den Tisch haben sie gedeckt mit Servietten und Gläsern, und der Künftige sitzt auf dem Sofa neben der aufgeputzten Deern, und die Alten auf Stühlen! – Manchmal denk’ ich, es muß eine neue Sündflut kommen.“

Ditscha nimmt schon unten in der Halle des Schlosses Hut und Mantel ab, schleudert beides hastig auf einen Stuhl, wirft einen Blick nach der Uhr und verschwindet in dem dämmerigen Korridor, auf den die Zimmer von Onkel und Tante münden, als deren letztes Onkel Jochens Arbeitsstube.

„Ditscha, wo willst Du hin?“ ruft Tante Anna von der Treppe her, aber das Mädchen antwortet nicht, nach einem kurzen energischen Pochen drückt sie die Klinke und tritt ein.

Onkel Jochen sitzt wie sonst vor dem Schreibtisch, aber die Pfeife, die er zwischen den Lippen hält, ist kalt, die Zeitung gar nicht auseinander gefaltet worden. Er hat die Hände auf der Tischplatte gefaltet und die Augen auf das Bild seines Sohnes geheftet, das ihn vorstellt im Sammetkittelchen, auf einem Pony reitend, ein hübscher lächelnder Junge. Als das Mädchen zu ihm tritt, wendet er den Kopf, und sie erschrickt vor dem trostlosen Ausdruck seiner Augen.

„Willst Du etwas?“ fragt er zerstreut, ohne sich zu wundern, daß sie ihn um diese Zeit aufsucht.

„Nur eine Frage, lieber Onkel Joachim.“

„Bitte!“ antwortet er.

Eine glühende Röte fliegt über ihr schmal gewordenes Gesicht, unwillkürlich falten sich ihre zitternden Hände und mit fast heiserer Stimme fragt sie: „Würdet Ihr – Du und Papa – niemals Eure Ansicht ändern über meine Neigung zu Hans von Perthien?“

„Nein!“ klingt es ruhig zurück.

„Niemals? – Auch wenn –“

„Nein, mein Kind! Es thut mir leid, daß Du noch einmal darauf zurückkommst – ich habe geglaubt, Du seiest fertig mit dieser Sache.“

Sie antwortet nicht, sie hat die Arme sinken lassen und sieht starr auf einen Punkt.

„Er hat wohl wieder angefragt, hat wohl gar zu schreiben sich unterstanden?“ erkundigt er sich und folgt mit seinen Blicken den ihrigen. Sie ruhen auf einem alten vergilbten Kupferstich, Romeo und Julia auf dem Balkon. Seit vierzig Jahren hängt das Bild da, schon zu Lebzeiten seines Vaters, Joachim weiß es kaum noch – jetzt erweckt’s ihm plötzlich ein unbehagliches Gefühl.

„So antworte doch!“ ruft er ungeduldig.

Ihr Blick wendet sich langsam zurück nach ihm. „Wie sagtest Du?“ stottert sie.

„Ob er an Dich geschrieben hat, frage ich.“

„Nein!“

„Na, wie kommst Du denn auf den alten Kohl?“ schreit er in seiner derben Art. „Niemals, hörst Du, niemals ist daran zu denken – die Gründe kennst Du.“

Sie sieht ihn groß an, nickt ein paarmal und geht still der Thüre zu.

„Ditscha!“ ruft er.

Sie wendet sich um.

„Plag’ Dich und uns doch nicht mit der dummen Geschichte! Dein Glück sieht anders aus, alte Deern, und wenn ich barsch bin, nimm’s nicht übel – siehst Du – jetzt – na, weißt’s ja. – – Gute Nacht, mein Kind!“

Die Stimme ist ihm erloschen; er winkt ihr hastig, zu gehen, und sie thut es.

Ein letzter Versuch zur Beruhigung für ihr banges unentschlossenes Herz! Es wäre ihr lieber gewesen, der Onkel Jochen hätte getobt und sie schlecht behandelt; seine von emporquellenden Thränen gebrochene Stimme quält sie furchtbar. (Fortsetzung folgt.)




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Zu Fuß um die Erde.

Von K. von Rengarten.
Die Feldarbeiterkolonie Krinitza im Kaukasus.

Eine Reise um die Erde ist heute nichts Seltenes mehr; läßt sich eine solche doch, wenn es auf Schnelligkeit ankommt, mit Zuhilfenahme aller Vorteile des modernen Verkehrs, von Blitzzügen und Schnelldampfern, in wenigen Monaten ausführen. Aber den Erdkreis zu Fuß zu durchwandern! Einem solchen Unternehmen haftet auch heute der Charakter des Unerhörten und Märchenhaften an. Wir haben daher mit nicht geringem Erstaunen und berechtigtem Kopfschütteln aufgeschaut, als wir im vorigen Herbst vom Verfasser des folgenden Wanderbriefs aus dem Kaukasus mitgeteilt erhielten, er habe die Absicht, von seinem Wohnort Riga aus eine Fußreise um die Welt anzutreten. Es geschah unter dem Eingeständnis, daß er selbst sich darüber klar sei, man müsse diesen Plan auf den ersten Eindruck recht gewagt, wenn nicht phantastisch finden. Aber er berief sich darauf, daß Friedrich Gerstäcker bereits in den vierziger Jahren es fertig gebracht habe, die Reise von Sidney nach Adelaide durch das unwirtliche Australien zu Fuß zurückzulegen, und daß ihm persönlich, der den größten Teil seiner Jünglingsjahre in nur wenig kultivierten Gegenden zugebracht habe, auf Grund seiner Erfahrungen eine auf 5½ Jahre berechnete Fußtour um die Welt am Ende unseres fortgeschrittenen Jahrhunderts gar wohl durchführbar erscheine.

„Schon mit 13 Jahren,“ fuhr er fort, „als ich noch das Gymnasium zu Pskow besuchte, habe ich in genau drei Tagen eine Entfernung von 140 Werst (151 Kilometer) zu Fuß ohne Schwierigkeiten überwunden; während zweier Jahre, die ich Seemann war, habe ich an mir die günstigsten Folgen einer von früher Kindheit an streng durchgeführten Abhärtungsmethode zu erproben Gelegenheit gehabt, und in fast 5 Jahren, die ich als Beamter (unter anderm auch an der transkaspischen Kriegsbahn unter General Annenkow) im Kaukasus und im Transkaspigebiet zubrachte, habe ich größere Fußtouren unternommen und auf denselben einen Teil des nördlichen Persiens, die Chanate Chiwa und Buchara und auch ein Stück von Turkestan kennengelernt. Augenblicklich zähle ich 29 Jahre.“

Der Reiseplan, den uns der unternehmungslustige Weltwanderer damals mitteilte, war aber folgender. Von Riga aus sollte der Marsch durch das europäische Rußland über den Kaukasus, weiter durch das nördliche Persien, durch Transkaspien, Buchara, Turkestan, die Kirgisensteppen, Sibirien (mit Berührung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_298.jpg&oldid=- (Version vom 21.8.2021)