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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Mitteilung gemacht und Tante Anna energisch untersagt, je auch nur das Unbedeutendste darüber zu reden, zu wem es auch sei. Man hatte sie halbtot an die Wiege ihres neugebornen Brüderchens geschleppt und war dann, andern Tages mit ihr wieder abgereist nach Beetzen, Der einzige Eindruck, den das Kind auf sie gemacht, war das Gefühl, daß sie nun erst recht überflüssig sei auf dieser Welt.

Als sie in Beetzen wieder angelangt war, hatte ihr Grete Busch einen Brief von Hans zugesteckt. Sie nahm ihn, riß ihn vor Gretes Augen in hundert kleine Stückchen und ließ diese von ihrer Handfläche fliegen, grüßte Grete hochmütig und wendete ihr den Rücken, ohne ein Wort zu sprechen, Grete, die auf viel Geld und auf ein Hochzeitsgeschenk für alle ihre Mühe gerechnet hatte, in sehr erbitterter Stimmung zurücklassend.

Tante Bertha betrachtete Ditscha mit aus Verwunderung und Entsetzen gemischten Blicken; Hanne war tödlich verlegen und wußte lange Zeit nicht, wie sie sich benehmen sollte. Einzig Tante Klementine, vor deren Bett das Mädchen kniete in stummem Jammer, weinte über sie. „O, Du mein armes Kind, mein armes Kind!“ Aber die Teilnahme der armen Kranken öffnete ihr auch die Augen über die Tragweite ihrer Verirrung. Und aussprechen konnte Ditscha sich auch bei ihr nicht; es war ihr, als sie den Versuch dazu machen wollte, als müßte ein einziger Schrei über ihre Lippen kommen, ein greller Schrei der Verzweiflung, der ihr selbst und anderen das Herz krank gemacht hätte.

Erst als Klementine ausgekämpft, als Ditscha am Sarge stand und Hanne sie kopfschüttelnd allein ließ mit der Toten, erst da fand sie, niederknieend und die Stirn gegen das Eichenholz des Sarges pressend, Thränen und Worte herzzerreißender Klagen und Fragen, eine Beichte, die ihr das Herz nicht erleichterte, sondern nur noch bitterer machte. Ihre Jugend – ist vorbei, vorüber! Sie hoffte nichts mehr, sie fühlte nichts mehr – sie lebte weiter in dem stillen Beetzen, ohne etwas zu vermissen, in starrer Abgeschiedenheit, ohne Sonne und Licht.

Dann kam der große herrliche Krieg. Ditscha atmete auf; sie bat auf den Knieen, man solle sie mitziehen lassen nach Frankreich als Krankenpflegerin – umsonst! Tante Anna trat ihren Posten als Vorsteherin eines großen Spitals nahe der deutschen Grenze an; Ditscha blieb bei Onkel und Tante, strickte Strümpfe und nähte Hemden, für die Soldaten im Felde, las geduldig Onkel Joachim die „Kreuzzeitung“ vor von A bis Z und verfolgte auf der Karte das Vordringen des siegreichen Heeres. Ihre Stiefmutter mit dem kleinen Joachim von Kronen kam damals ins Haus, ein nervöses seufzendes ungeduldiges zierliches Frauchen, das jeden Tag ein bis zwei Thränenscenen aufführte, sehr viel Romane las und ihrem prächtigen Buben etwas von seinem armen, armen Papa erzählte, der nie wiederkomme, ganz gewiß nicht wiederkomme, und der Onkel Bredow auch nicht. Dann ging das Weinen und Jammern von neuem an, und das geängstigte, damals dreijährige Kind schrie mit, als ob es am Spieße stäke. Ditscha stand dabei mit ihrem blassen Gesicht und wußte nicht, was sie dazu sagen sollte.

Frau Cilly von Kronen hatte in der Hauptsache recht gehabt: An einem entsetzlich heißen Sommertage traf die Kunde von dem Tode ihres Mannes ein; er war bei Mars-la-Tour gefallen.

Ditscha war nun ganz Waise, aber an sie dachte niemand. All’ und jede Teilnahme konzentrierte sich auf die junge Witwe und den kleinen Sohn. Selbst Tante Bertha rüttelte sich aus ihrer starren Zurückhaltung empor, die sie gegen den kleinen Burschen zu beobachten pflegte, und schloß weinend das Kind in die Arme, Onkel Joachim saß bei dem sich verzweifelnd gebärdenden, jungen Weibe stundenlang, und endlich machte er sich auf, um die Leiche des Bruders zu holen. Als er in Begleitung des verwundeten Adjutanten seines gefallenen Bruders mit dessen sterblichen Ueberresten zurückkehrte, hatte sich Frau Cilly so weit gefaßt, daß sie Herrn von Bredow empfangen konnte. Die Witwenhaube auf dem lichtblonden Haar, ganz in schwarzen schleppenden Krepp gehüllt, aus dem ihr Kindergesicht zart wie eine Apfelblüte hervorsah, erwartete sie ihn im Empfangszimmer. Ditscha, den Kleinen auf dem Arme, stand hinter ihrem Sessel.

Herr von Bredow trug den Arm in der Binde, ein schöner hochgewachsener Mann, in dessen jugendlichem Gesicht es zuckte wie von mühsam verhaltener Aufregung, als er der Witwe seines Kommandeurs die Hand küßte. Er machte Ditscha seine ritterlichste Verbeugung und strich dem Kleinen über den Blondkopf.

„Ach, Ditscha, bitte, darf ich Dir Herrn von Bredow vorstellen? – Herr von Bredow, dies ist die Tochter meines armen verstorbenen Mannes.“

Herr von Bredow hatte sich tief verbeugt und sich dann vor Frau Cilly, die jetzt das Kind auf dem Schöße hielt, niedergelassen auf einem kleinen Taburett; es sah fast aus, als kniee er vor ihr. Und nun kam der Bericht von seines Obersten Tode und seinen letzten Grüßen. Sie hatten „meiner Frau, meiner armen kleinen Frau“ gegolten und „dem süßen Jungen“. Cilly waren bitterliche Thränen über das weiße Gesichtchen gelaufen; Ditscha stand, die Arme schlaff herabhängend, die Hände die Falten ihres Kleides gekrallt, da und wartete auf den letzten Gruß ihres Vaters. Aber Herr von Bredow sagte nichts dergleichen; Frau Cilly sprach schon längst mit leiser Stimme von der Verwundung des Berichterstatters. Da wandte sich – Ditscha zum Gehen, ein eiskaltes, bitteres Gefühl im Herzen.

Nicht ’mal in der Sterbestunde hatte er ihrer gedacht!

Der Begräbnistag stand heute wieder so deutlich vor ihr. Alle hatten geweint, nur sie nicht: nicht bei der ergreifenden Rede des Predigers, nicht bei den verzweifelten Schmerzausbrüchen der jungen Witwe und den spärlichen Thränen, die in Onkel Jochens silbergrauen Bart rieselten; nicht, als sich die Pforte der Kapelle hinter Klaus von Kronens sterblichen Ueberresten schloß, und nicht bei den tröstenden Worten des zahlreichen Trauergefolges. Zu, dieser trüben Feier hatte sich der ganze Adel der Nachbarschaft vollzählig auf dem alten Beetzen eingefunden, und wenn Joachim von Kronen je geglaubt hatte, man habe ihn gestrichen aus der Zahl der Lebenden, so hatte er sich geirrt. Alle waren sie da, alle.

Ditscha weinte auch hier nicht; erst als sie allein war in der Nacht, da rüttelte es sie in wildem Schmerz; aber es war nicht Trauer, was sie bewegte, es war das vereinsamte gekränkte Herz, das mit dem Toten haderte, weil er sie nicht besser geliebt, weil es nicht so um ihn trauern konnte, wie es gewollt und gesollt!

(Fortsetzung folgt.)




Gustav Freytag.

Von Rudolf von Gottschall.
(Mit dem Bilde auf S. 328 und 329.)

Gustav Freytag ist nicht mehr! Die deutsche Nation hat einen ihrer Lieblingsschriftsteller verloren. Am 30. April ist er zu Wiesbaden in seinem 79. Lebensjahre gestorben. Tief wird dieser Verlust empfunden werden, wenn auch der Dichter sich in den letzten Jahren mehr beschaulicher Muße hingegeben und nur selten zur Feder gegriffen hat, um seine Meinung über eine nationale Angelegenheit, wie in der Schrift „Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone“, auszusprechen. Wie sein Bild der Berliner Nationalgalerie angehört, so gehören seine Werke unserer Nationallitteratur als dauernde Bereicherung.

Gustav Freytag ist ein Schlesier von Geburt; aber das phantasievolle und bewegliche Naturell seines Volksstammes war ihm nur in beschränktem Maße eigen. Die liebenswürdige Plauderhaftigkeit eines Karl von Holtei, die herausfordernde Keckheit eines Heinrich Laube würde man bei ihm vergeblich suchen. Freytag war von Hause aus maßvoll und hat nie eine überschäumende Sturm- und Drangepoche durchgemacht. Seine Jovialität war stets fein und hatte einen starken Zusatz von Ironie, sein Gemüt hatte etwas Inniges, das sich nie ausgab in überströmenden Ergüssen, das mit allen Empfindungen haushielt; aber stets traf er das bezeichnende Wort, das sie voll zum Ausdruck brachte.

Gustav Freytag stammt aus jenen Gegenden jenseit der Oder, die sich nicht gerade des Rufes malerischer Schönheit erfreuen; er ist am 13. Juli 1816 in Kreuzburg geboren, an der Grenze der „Wasserpolackei“, die ihren Namen davon hat, daß hier das Polentum im Osten und Süden dicht heranrückt an die von Deutschen

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