Seite:Die Gartenlaube (1895) 429.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Nr. 26.   1895.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Abonnements-Preis: In Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf. In Halbheften, jährlich 28 Halbhefte, je 25 Pf. In Heften, jährlich 14 Hefte, je 50 Pf.



Haus Beetzen.

Roman von W. Heimburg.

     (12. Fortsetzung.)

Für Kurt Rothe ist es Nacht geworden seit jenem Augenblick, da er Ditschas Brief gelesen. Eine trostlosere Verzweiflung hätte ihn nicht erfassen können, wenn er die Nachricht von ihrem Tode empfangen hätte an Stelle dieses Bekenntnisses.

Seine Dienerschaft schüttelt den Kopf über ihn, er ißt kaum, er trinkt höchstens. Tagsüber, wenn er die notwendigsten Geschäfte erledigt hat, sitzt er vor seinem Schreibtisch, auf dem Ditschas Bild steht, und brütet vor sich hin. Er hat bis jetzt noch nicht einmal an seine Mutter geschrieben, der einzige Brief galt dem alten Baron.

Jeden Abend, zu der Zeit, wo er sonst zu Ditscha eilte, packt ihn eine fürchterliche Unruhe, er nimmt dann die Mütze vom Haken und verläßt das Haus. Ohne Wahl und Ziel läuft er in dem Schnee und der Kälte umher, immer nur das eine denkend: Ist es denn wahr? Ist es möglich? Mit einem wahren Grauen vergegenwärtigt er sich das geliebte Gesicht, die schönen traurigen Augen, den feinen herben Mund – und das alles hat schon einem andern gehört! Er erinnert sich an Ditschas ängstliches Staunen, wenn er davon sprach, daß er es nicht ertragen würde, auch nur die Erinnerungen ihres Herzens mit einem andern teilen zu müssen, ach – und wie mußte sie diesen andern geliebt haben, daß sie ihm alles opfern wollte, Heimat, Vaterhaus, Ehre, Ruf – alles!

Wenn er an diesen Punkt gelangt, und seine Gedanken nehmen ungefähr zwanzigmal des Tages diesen nämlichen Weg, so schlägt er sich mit der Faust vor die Stirn und möchte den Menschen, der es gewagt hat, sie zu lieben, erdrosseln.

Wiedersehen kann er sie nicht, will er nicht – nur das nicht! Nach einem Weilchen ertappt er sich dann jedesmal auf der Chaussee nach Beetzen und wendet um mit dem Gedanken: Was nun? Noch ist sie seine Braut – es muß doch etwas geschehen! Er muß doch dem Baron mitteilen, daß er auf die Ehre, der Gatte Sophies von Kronen zu werden, leider zu verzichten genötigt sei. Und dann fort aus dieser Gegend, Dombeck verpachten zunächst, und verkaufen, sobald sich eine günstige Gelegenheit findet!

Sie hat ihn wenigstens vor dem Schlimmsten bewahrt, vor dem Makel der Lächerlichkeit, davor, daß man in allen Kneipen, in allen Kaffees gesagt hätte: Frau Rothe? Ach, die famose Ditscha, die damals mit dem So und So durchbrannte? Er kennt ja das – großer Gott, es wäre, um sich eine Kugel vor den Kopf zu schießen! Dabei packt ihn ein wahnsinniges Verlangen: er möchte sie noch einmal sehen mit seinen entsetzlich ernüchterten Augen, möchte ihr sagen: „Das bist also Du, die ich verehrt habe wie eine Heilige? Ich vergebe Dir, ja ich vergebe Dir! Lebe glücklich, und wenn Dir’s möglich ist, mache nicht noch öfter einen so ehrlichen Kerl so elend wie mich. Es giebt ja welche, die es nicht so genau nehmen, solche mußt Du Dir heraussuchen, nur nicht so einen, so einen, wie ich es bin, der daran zu Grunde gehen wird, daß er sein Herz an ein Mädchen hing, für das er nicht der einzige Mann war und geblieben ist.“ – –

Er kann’s nicht, nein, er kann’s nicht: er will keine Frau, die Erinnerungen hat, er will nicht eine, die so zu lügen weiß – ihr ganzes Brautsein mit ihm war Lüge! – Ach ja, er erinnert sich an so manches, an den Widerstand, als er ihr sein Herz bot, an ihr flehentliches Bitten: „Sprich erst mit Onkel!“ Ach ja – aber, was nun? Was soll werden?

So ist er auch heute, am Heiligen Abend, wieder davon gelaufen aus seinem Zimmer, in das ihm Pakete hineingetragen wurden, die der Postbote. gebracht – von daheim. Was mögen sie denken, die Seinigen, daß er noch nicht schrieb? In dieser


[Gustav Nieritz.]

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 429. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_429.jpg&oldid=- (Version vom 18.7.2023)