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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Heinrich Marschners hundertster Geburtstag. Am 16. August 1895 waren hundert Jahre verflossen seit der Geburt eines der bedeutendsten Tondichter der neueren Zeit, nämlich Heinrich Marschners, dessen Schöpfungen ein echt deutsches Gepräge tragen und zum Teil außerordentlich volkstümlich geworden sind. Von seinen zahlreichen Opern haben sich zwei, „Der Templer und die Jüdin“ und „Hans Heiling“, bis heute auf der Bühne lebendig erhalten: in ihnen erklingen die reizvollsten Töne der musikalischen Romantik, und dabei wissen sie den frischen Volkston oft in meisterhafter Weise zu treffen. Das letztere gilt ganz besonders aber auch von Marschners prächtigen Männerchören und Liedern, in denen sich so ganz das kerndeutsche Empfinden des Komponisten ausspricht. Wir wollen daher seinen Gedenktag nicht vorübergehen lassen, ohne einen kurzen Rückblick auf des Meisters Leben und Schaffen zu werfen. – Marschner wurde am 16. August 1795 (nicht 1796, wie man es noch in älteren Quellen angegeben findet) zu Zittau in Sachsen geboren. Er wollte sich zuerst der Jurisprudenz widmen, wandte sich aber bald ganz der leidenschaftlich geliebten Musik zu und wurde ein Schüler des damaligen Leipziger Thomaskantors Schicht. Er bildete sich zunächst zum Klaviervirtuosen aus, lernte in Wien Beethoven kennen und erhielt 1817 eine Musiklehrerstelle in Preßburg, wo er seine ersten Versuche in der Opernkomposition unternahm. Eines dieser Erstlingswerke schickte er an den von ihm hochverehrten und zum künstlerischen Vorbilde auserkorenen Karl Maria von Weber in Dresden, der es 1819 zur Aufführung brachte. 1822 siedelte Marschner nach der sächsischen Residenz über, wo er 1824 zum Musikdirektor der deutschen und italienischen Oper ernannt wurde. Der vertraute Umgang mit Weber, der den jungen Kunstgenossen rasch liebgewann, förderte diesen außerordentlich; Webers Einfluß tritt auch in der ersten Oper, die Marschners Ruf begründete, dem 1828 erschienenen „Vampyr“, unverkennbar zu Tage.

Heinrich Marschner.
Photographie im Verlage der Verlagsgesellschaft für Kunst
und Wissenschaft in München.

Marschner ist aber durchaus kein Nachtreter des Freischütz-Komponisten zu nennen, wenn er auch seine künstlerische Individualität an ihm gebildet hat. Sein frischestes Werk ist „Der Templer und die Jüdin“ (1829), das leider an einem durchaus ungenügenden Texte (nach W. Scotts „Ivanhoe“) krankt; sein reifstes, im Stil einheitlichstes und vollendetstes ist „Hans Heiling“ (1833), das noch besonders dadurch bemerkenswert ist, daß es Richard Wagner in seinem „Fliegenden Holländer“ ganz unverkennbar beeinflußt hat. Aus den genannten drei Opern Marschners sind viele Nummern allbekannt geworden, wie z. B. „Im Herbst, da muß man trinken“ aus dem „Vampyr“; „Wer ist der Ritter hochgeehrt“, „’s wird besser geh’n“ aus dem „Templer“ etc. Wie in diesen Werken schon seine Begabung für die charakteristische Liedform besonders hervortritt, so gehören viele seiner Männerchöre (z. B. das herrliche Lied „Frei wie des Adlers mächtiges Gefieder“) zu den Perlen unserer Musiklitteratur, die von den Gesangvereinen nicht unbeachtet gelassen werden sollten. Ueber Marschners Lebensumstände ist noch nachzutragen, daß er 1827 als Kapellmeister nach Leipzig und 1831 als Hofkapellmeister nach Hannover ging. 1859, in der Reaktionszeit, ward der allgemein verehrte Künstler, der kein Hehl aus seiner freisinnigen Denkungsweise machte und dadurch in höfischen Kreisen Anstoß erregte, mit dem Titel eines Generalmusikdirektors pensioniert. Er starb am 14. Dezember 1861 in Hannover, vor dessen Hoftheater sich jetzt sein Denkmal erhebt. E. M.     

Am Sonntagmorgen. (Zu dem Bilde S. 585.) Wie friedlich sitzt hier der Herr Kantor am frühen Sonntagmorgen bei dem wichtigen Hauptgeschäft seiner Toilette! Das helle Sonnenlicht scheint in sein Stübchen herein, spiegelt sich in dem sauber geordneten Waschgeschirr und wirft blanke Lichter über das grauatlassene Staatshabit, das der Eigentümer schon gestern abend sorgsam auf der Truhe ausbreitete. Der schwarze Amtshut und die blankgeputzten Schnallenschuhe sind auch dicht dabei, und darüber hängt die getreue Geige, welche so oft den ins Unmögliche sich versteigenden Gesang der Dorfjugend wieder ins richtige Geleis zu lenken hat. Aber nur Geduld! Ihrer aller Zeit ist noch nicht gekommen, vorerst sitzt der Herr Kantor in Kniehosen und geblümter Schoßweste, den Kopf in ein Tuch gehüllt, und müht sich, sein Zopfband richtig um den End- und Glanzpunkt der ganzen gepuderten Herrlichkeit zu schlingen. Man sieht es ihm an, welche Wichtigkeit er diesem Geschäfte beimißt und wie wenig verloren er die Zeit erachtet, welche er allsonntäglich darauf verwendet, um dann eine Stunde später im Schmuck dieser majestätischen Perücke den Kirchweg anzutreten. – Die „gute alte Zeit“ mit ihrer friedlichen Stille und genügsamen Unbequemlichkeit sieht uns aus diesem hübschen Bilde ganz leibhaftig an! Bn.     

Voll Dampf voraus! (Zu dem Bilde S. 589.) Vorwärts! – Die See brandet haushoch gegen die Molenköpfe des Hafens. Jetzt sind die gewaltigen Steinquadern bis tief unten entblößt, und jetzt wieder flutet der schäumende Schwall donnernd bis oben über die Mauern, und wild jagt der spritzende Gischt über die Kuppeln der Feuertürme. Aber vorwärts – dennoch vorwärts!

Ein schwaches Geräusch, wie ein ferner Paukenschlag, durchdringt das Tosen. Und wieder – und abermals! Es ist die höchste Zeit, dem draußen bei dem Unwetter festgekommenen Dreimaster zur Hilfe zu eilen; die rasche Folge der Notschüsse, dies unbeschreiblich ans Herz greifende dumpfe Flehen aus Todesnot lehrt es!

Und vorwärts! Der Kapitän des Schleppers steht auf seiner Brücke fest wie aus Erz gegossen. Sein Arm ist ausgestreckt, wie er das Kommando giebt. Eherne Züge zeigen sich unter dem nassen Südwester. Sie sehen kalt und gelassen aus, aber drinnen in der Brust schlägt ein warmes Herz, ein Herz voll Pflichtgefühl, voll Menschenliebe.

Zu Hunderten halten die Menschen auf den inneren Molen dem sprühenden Seewasser stand und folgen mit weit geöffneten Augen, fast atemlos, dem Manöver des Schleppers. Dieser hat sich quer von der Mole ab in den Hafen gedreht: die Trosse, das starke Tau, die seinen Bug gegen die Wellenrichtung halten soll, ist wie Glas gesprungen, und schon sieht jeder, wie die wütende See das noch unbehilfliche Fahrzeug gegen die Quadern der Ausfahrt schleudert. Man preßt die Hand des Nachbarn; ein Zittern läuft durch die Kniee.

Aber der Kapitän versteht seinen Renner zu meistern und herumzuwerfen. Zwar streift der Steuerbord-Radkasten noch den Molenkopf, daß es weithin kracht von splitterndem Holz; jetzt aber ist der Dampfer frei, und tief in die Brandung gräbt er seine Brust und dann hebt er sie wieder triumphierend, während das Wasser stromweise von den Außenbordleisten fließt. Hipp – hipp – Hurra! Ein dreifaches, elementar aus den Herzen brechendes Hoch gellt ihm nach. Der Kapitän wendet sich einen Augenblick zurück und winkt seinen Dank.

Und nun verschwindet das kämpfende Fahrzeug immer mehr in dem Wolkengrau, das über der schäumenden Fläche lagert. Man sieht schwächer und schwächer, wie es aufwärts steigt und sinkt; immer länger wird die horizontale Rauchsäule, die dem Schornstein schwarz entquollen ist. Stunde auf Stunde verrinnt. Die halbe Nacht vergeht. Die Leute auf den Molen rühren sich nicht vom Fleck. – Endlich – endlich – ein rotes und ein grünes Licht und ein Weißes darüber!

Noch immer heult der Sturm und wütet die Brandung. Da jagt es dunkel und groß durch die Einfahrt. Noch ein heftiges Schleudern und das ruhige Wasser ist erreicht. Das brave Schiff hat sein aufopferndes Werk glücklich vollendet!

Und wieder gellt das Hurra dnrch die Nacht. Hunderte von Händen wollen helfend zupacken, wollen den gedrängt auf dem Deck hockenden geretteten Seeleuten, die ihr Fahrzeug freilich verloren haben, ein Obdach bieten, wollen dem einfachen, tapferen Manne mit den ehernen Zügen ihre Bewunderung, ihren Stolz, ihre Liebe kundgeben. Und dieser sucht mit dem Blick das sich schiebende, schwärzliche Menschengewimmel zu durchdringen: er sucht nach Weib und Kind! Gott sei Dank, sie haben sich wieder!

Was für ihn auf dem Spiel gestanden hat, das kann niemand ihm nachfühlen; aber jedermann weiß, daß es allezeit, nach wie vor, bei dem Appell an seine Pflicht, bei ihm heißen wird: Voll Dampf voraus! Johannes Wilda.     

Auf Berges Höhe. (Zu dem Bilde S. 593.) Ganz oben in der Scharte zwischen steilen Wänden liegt ein uraltes Wallfahrtskirchlein, und am Tag Mariä Himmelfahrt geht ein großer Zug aus dem Thal hinauf, um vor dem Gnadenbild zu beten. Dann aber, wenn Messe und Predigt vorbei sind, steigt man auf den nahen Felsgipfel, wo die weite Rundsicht nach allen Seiten sich aufthut; dort wird Speise und Trank aus den Rucksäcken geholt und ein vergnügtes Mahl in der herrlichen Gottesluft gehalten. Die Gesellschaft ist gemischt: neben den richtigen Bäuerinnen sitzen Stadtdamen, die in der Sommerfrische das Bauernkleid tragen, einige davon müssen gegen den Luftzug der Höhe ein Tuch umnehmen. Man kann auch die übrigen nach Gesicht und Haltung leicht herausfinden. Ganz unverfälscht echt aber ist der Anführer in Lederhosen mit dem großen Strauß am Bergstock, der eben jodelnd seinen Hut einigen Nachzüglern entgegen schwingt. Und über dem ganzen Bild liegt ein Abglanz jener freudigen Sommerstimmung, die jeder kennt, welcher einmal an wolkenlosem Augusttag auf solcher Höhe Rast gehalten hat! Bn.     

Caritas. (Zu unserer Kunstbeilage.) In der Sprache der Kunst hat das Wort „Caritas“ im Laufe der Zeiten einen ganz bestimmten Begriff angenommen. Bedeutet es ursprünglich die Nächstenliebe im weitesten Sinne, so haben die Künstler es geprägt zum besonderen Ausdruck für die Mutterliebe. Wie unter „Pietà“ die leidende, schmerzensreiche, so war unter „Carità“ die sorgende, nährende, hütende Mutterliebe verstanden. Eine Darstellung dieses Begriffes ist nun auch das Gemälde von J. Koppers, das unsere heutige Kunstbeilage wiedergiebt. Fröhlich schwelgen die kleinen Pfleglinge in der Fülle üppiger Früchte, der Mutter Schoß ist ihnen Paradies. Aber auch der erwachsene Knabe zur Rechten schaut mit vollem Hoffnungsblick zum Himmel empor. Von der Hand, die sich sanft auf seine Schulter legt, geht es wie ein Strom von Vertrauen durch sein Inneres; er fühlt es und weiß es: so lange diese Hand über ihm waltet, ist er geborgen.

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manicula 0Hierzu Kunstbeilage X: „Caritas.“0 Von J. Koppers.

Inhalt: Sturm im Wasserglase. Roman aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Von Stefanie Keyser (1. Fortsetzung). S. 581. – Auf dem „Gefährt“. Bild. S. 581. – Am Sonntagmorgen. Bild. S. 585. – Spaziergänge in chinesischen Arbeitervierteln. Von Ernst von Hesse-Wartegg. S. 586. – Voll Dampf voraus! Bild. S. 589. – Der gute Kamerad. Ein Geburtstagslied für meine Frau. Gedicht. Von E. Hermann. S. 590. – Freiheit. Novelle von A. von Klinckowstroem (Schluß). S. 590. – Auf Berges Höhe. Bild. S. 593. – Blätter und Blüten: Auf dem „Gefährt“. Von Karl Brandt. S. 595. (Zu dem Bilde S. 581.) – Heinrich Marschners hundertster Geburtstag. Mit Bildnis, S. 596. – Am Sonntagmorgeu. S. 596. (Zu dem Bilde S. 585.) – Voll Dampf voraus! Von Johannes Wilda. S. 596. (Zu dem Bilde S. 589.) – Auf Berges Höhe. S. 596. (Zu dem Bilde S. 593.) – Caritas. S. 596. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_596.jpg&oldid=- (Version vom 17.4.2024)