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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Gefangenen; die fettesten Frösche verachtend, jagte und hastete er durch den Garten, bis ein Ruf, meist schon aus weiter Ferne, die Heimkehr der Treulosen verkündete. Sofort änderte sich das Benehmen des Kranichs, und stolz einherwandelnd, trug er eine erhabene Gleichgültigkeit zur Schau; – er strafte sogar die Sünderin durch vollständiges Nichtbeachten ihrer Person, trotzdem sie demütig jedem seiner stolzen Schritte folgte, bis mit der sinkenden Sonne der Tanz der Beiden auch die Versöhnung brachte.

Dieser Tanz wurde folgendermaßen ausgeführt:

Zunächst sprang man mit gleichen Füßen und ausgespannten Flügeln, sich gegenseitig in der Leistung überbietend, einige Minuten lang vor einander in die Luft. Dann jagten die großen Vögel in entgegengesetzter Richtung, wieder mit ausgespannten Flügeln, um ein Boskett, neigten sich tief voreinander, sobald sie sich begegneten, nebenbei durch das schallende Gelächter der Hausbewohner und etwaiger Gäste eher angefeuert als eingeschüchtert. Die Whistpartie, die die biedern Landonkel vereinigte, der Pferdehandel im entscheidenden Augenblick, die Klavierstunde der Töchter, alles wurde unterbrochen, sobald der Ruf ertönte: Die Kraniche tanzen!

Durch die groteske Komik der Sprünge ging dann wieder ein Zug der Galanterie, wenn die Tänzer im Vorbeistürmen eine Blume köpften, sich diese im hohen Bogen zuwarfen und dann sich wieder höflich voreinander neigten.

So ging der Sommer in Lust und Leid dahin, bis mit den ersten Herbstanzeichen der Wandertrieb des Weibchens in bedenkliche Konkurrenz mit der Pflicht trat. Immer länger wurde ihr tägliches Ausbleiben, trotzdem Hans sich keine Mühe mehr gab, seine wachsende Angst und Sorge zu verbergen.

Unruhig streiften die Vögel durch den im Laube schon stark gelichteten Garten als die ersten Oktoberstürme die alten Ulmen schüttelten. Wie dann abermals ein Kranichzug über den Garten gen Süden zog, stieß der fremde Vogel einen scharfen Schrei aus, hob sich im unbezwinglichen Drange des Anschlusses an die Gefährten hoch in die Lüfte empor – und fort war er. –

In wilder Verzweiflung durchbrach der Zurückgebliebene das Gehege des Parkes. Er lief bis in ein nahes Gehölz, in dem es den zu seiner Verfolgung abgesandten Leuten gelang, das sich wie rasend gebärdende Tier nach heftigem Kampfe zu ergreifen; nach hartem Kampfe – denn das rechte Bein war im Gelenk gebrochen und aus dem Halse lief Blut. – Die Kugel von der Hand des Hausherrn brachte der äußern und innern Qual ein rasches Ende. –

Als dann das Brausen des Frühlings wieder durch die Föhren ging und alle die erwachenden Stimmen der Natur das Menschenherz mit Sehnsucht zu füllen begannen, erklang auch wieder der wohlbekannte Ruf, mit dem im vorigen Sommer das Kranichweibchen schon von ferne seine Ankunft zu verkünden pflegte. Hoch über dem Garten sah man sie die Kreise enger und enger ziehen – sie ließ sich nieder, durcheilte die Gänge in wilder Hast, sprach andern Tages noch einmal vor und dann – kam sie nicht mehr.


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Die braune Marenz.

Erzählung von Charlotte Niese.

Als wir Kinder waren, zählte die braune Marenz zu unseren Freundinnen. Zwar gab es Leute, die behaupten wollten, die braune Marenz sei kein vorteilhafter Umgang für uns. Aber man muß sich nicht immer danach richten, was die Leute sagen, sondern thun, was einem selbst gefällt. Und da uns die braune Marenz wirklich gefiel, so sprachen wir mit ihr so oft, wie wir ihr begegneten.

Sie war übrigens gar nicht braun, sondern hatte ebenso rote Wangen wie wir. Niemand nannte sie die braune Marenz als wir allein, und wir hatten ihr diesen Namen gegeben, weil sie immer nur ein braunes, sehr häßliches Kleid trug. Aus dem war sie herausgewachsen; sie hatte es nämlich zur Konfirmation erhalten und nun war sie neunzehn oder zwanzig Jahre alt. Damals war es vielleicht auch nicht mehr neu gewesen: nun hatte es unzählige Löcher.

„Marenz, ziehe doch einmal ein anderes Kleid an,“ sagten wir zu ihr, als selbst unsern immerhin anspruchslosen Augen das Gewand etwas zu schadhaft erschien – und die also Aufgeforderte lachte, wobei sie ihre weißen Zähne zeigte.

„Wenn ich ein anner Kleid hätt, dann hätt ich es all lang angezogen!“

„Giebt Deine Mutter Dir denn kein neues Kleid?“ fragten wir weiter und Marenz lachte noch mehr.

„Was Ihr doch dumm seid! Ich habe Euch schon ein paarmal gesagt, daß ich aus’n Armenhaus komme und kein Vater hab und kein Mutter! Wo sollt ich da neue Kleiders herkriegen?“

„Aber Du dienst doch! Bekommst Du denn keinen Lohn?“

Marenz sah nachdenklich aus.

„Lohn krieg ich woll; abers was der Bäcker is, wo ich bin, der hat gesagt, die Kost wär das meiste, was er geben thät. Ich brauch denn auch Toffeln[1] und Strümpfens, und ein Unterrock mußt ich mich neulich auch noch kaufen! Auf’n Jahrmarkt, in die Bude bei die Frau aus Kiel. Mit’n feinen roten Band an, und das is gleich abgerissen! Nee, Geld zum Kleid hab ich nich!“

Sorgenvoll gingen wir nach Hause. Es mußte doch unangenehm sein, nur ein Kleid zu haben, wo wir doch selbst aus eigener Erfahrung wußten, wie leicht einem Kleidungsstücke etwas ankommen kann!

Allerdings erklärten unsere erwachsenen weiblichen Familienmitglieder, sie hätten nichts zum Verschenken und ihre Schränke seien leer – aber wir setzten es dennoch durch, nach einigen Tagen mit einem ziemlich großen Bündel vor dem Bäckerladen erscheinen zu können, wo Marenz gerade die Straße fegte.

Sie hatte ihr zerrissenes Kleid hoch aufgeschürzt und bei jeder Bewegung wehte ein langes rotes Band, dessen Heimat der Unterrock aus Kiel zu sein schien, hinter ihr her. Aber sie sang mit heller Stimme ein lustiges Lied, und als sie uns kommen sah, lief sie uns einige Schritte entgegen.

„Wir haben ein Kleid für Dich, Marenz!“ bemerkte ich wichtig.

Mit einem Freudenschrei riß sie mir das Paket vom Arm.

„Ein Kleid? O, was seid Ihr für Engels, Engels, Engels! O, was forn Farbe sollt es woll haben? Is da woll ein büschen Rot und Grün ein?“

Rot und Grün! Du lieber Gott! Unsere alte, gute Tante, die ledigen Standes war und die sich bescheiden, wie es einer Jungfrau ziemt, in die dunkelsten Farben kleidete, hatte sich das Kleid für uns gewissermaßen vom Leibe gerissen. Es war, wie sie sagte, so gut wie neu und erst fünf Jahre alt! Seine Farbe war ein tiefes Dunkelbraun mit schwarzen Punkten darin und sein allgemeiner Eindruck ein etwas düsterer.

Als es in seiner ganzen dunklen Pracht aus dem Paket kam, konnte Marenz denn auch einen kleinen Schrei der Enttäuschung nicht unterdrücken.

„Du meine Zeit!“ seufzte sie. „Furchbar fein is es und den Stoff scheint prachvoll – wenn ich abers doch einmal in mein irdischen Leben ein buntes Kleid kriegte. Bloß einmal! In Armenhaus hatt ich ümmer ein dunkelblaues an und wie ich die Gööse[2] in Staberdorf hütete, kriegt ich mal ein dunkellilares von die Bäurin! Und denn das braune, was nu so slecht is und denn dieses! Das is noch das swärzeste von alle Kleiders!“

Marenz weinte jetzt ein wenig. Nicht gerade viel, aber doch so, daß wir es sehen konnten. Uns war ihre Betrübnis ganz verständlich, denn wir mochten helle Farben auch lieber leiden als dunkle – und wir hätten sie gern getröstet.

„Dunkle Kleider sind sehr gut!“ bemerkte mein Bruder Jürgen. „Man kann die Flecke nicht so deutlich darauf sehen. Ich hatte neulich eine weiße Hose an; aber als ich ein bißchen auf dem Rasen saß, wurde sie gleich grün, und Mama schalt mich aus!“

„Wenn Du mal Trauer bekommst,“ sagte ich jetzt, „dann hast Du gleich ein dunkles Kleid und brauchst Dir keins zu kaufen!“

Marenz lachte schon wieder.

„Wo sollt ich woll Trauer herkriegen, wo ich nich mal ein Großmutter mehr hab?“

„Nee, sie hat nix nich auf die Welt!“ mischte sich jetzt die dicke Bäckersfrau ins Gespräch. Sie stand plötzlich in der Hausthür und hatte wohl unsere Verhandlungen mit angehört. „So’n arme Deern! Denkt noch an bunte Farbens, wo sie Gott danken kann, wenn sie überhaupt was auf’n Leib und in den Leib kriegt! Bedank Dir, Marenz!“

Frau Bäckermeister Olten war eine Dame, die wir uns lieber aus der Ferne betrachteten, als daß wir in der Nähe mit ihr sprachen. Sie sollte nämlich nicht allein ihren Mann, sondern auch ihre Dienstboten prügeln und einmal einen Käufer aus dem Laden geworfen haben, weil er behauptete, das Brot sei alt. Wir empfanden daher mehr Respekt als Liebe für Frau Olten und wir


  1. Pantoffeln.
  2. Gänse.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_607.jpg&oldid=- (Version vom 20.7.2023)