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verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Wallwitz schwärmte sehr für Musik und, bei völliger Unkenntnis der Klassiker, natürlich einseitig für Wagner, in dessen Werken er die Motive kannte und mit einer prompten Genauigkeit bezeichnen konnte, als ständen sie im Dienstreglement. Natürlich wurde der Ballabend auch mit dem Marsch aus „Tannhäuser“ eingeleitet, den die Regimentsmusik in einem Nebenzimmer blies.

Unter den Klängen desselben ward René zu dem Fräulein von Wallwitz geführt. Als Lilly den Bruder mit dem Hofkapellmeister herankommen sah, ließ sie ihre Freundinnen und Kavaliere stehen und ging den Männern entgegen.

„Nun endlich!“ sagte sie, „es war sehr unartig, daß Sie uns Sonntag vor acht Tagen einfach sitzen ließen.“

René entschuldigte sich und sah ihr gerade ins Gesicht. Es erging ihm wie allen Leuten: die dunkle Lücke in dem weißen Gebiß zwischen den roten vollen Lippen fiel ihm sogleich auf. Aber ihm war, als gäbe der kleine Schönheitsfehler dem hübschen Antlitz einen pikanten Reiz.

„Ich habe Ihnen die Polonaise und den Kotillon aufbewahrt,“ erklärte sie, „denn ich dachte mir, daß Ihre Unterhaltungsgabe größer sein würde als Ihre Tanzkunst.“

René war an Entgegenkommen gewöhnt, aber dies franke und starke schmeichelte ihm doch ein wenig, besonders auch, weil es ihm von einer verzogenen Dame der ersten Gesellschaft gezeigt ward. Hinter den Coulissen, vermöge des dort herrschenden freien Tons und im Bewußtsein seiner Machtstellung als Dirigent, hätte ihn diese Art und Weise ganz gleichgültig gelassen.

„Lilly hat sich in der Genfer Pension eine erschreckliche Dreistigkeit angewöhnt,“ sagte Wallwitz, der immer noch nicht wußte, ob er sich über sie beunruhigen sollte oder ob er lachen dürfte.

„Wahrscheinlich täuschen Sie sich, gnädiges Fräulein. Ich tanze sehr gern und danke Gott, wenn man nicht die soziale Frage mit mir lösen oder sonstige Bildungsfunken aus mir herausschlagen will. Aber jedenfalls danke ich Ihnen für die Bevorzugung,“ meinte René.

„Bloße Neugier,“ sagte sie lachend und sah ihn mit ihren unruhigen, goldflimmernden Augen so durchdringend an, daß ihm ein wenig schwül ward.

Der Tannhäusermarsch war beendet und jetzt begann die Polonaise. Wallwitz stürzte davon, um Sibylle Lenzow zu holen, mit welcher er den Ball eröffnen und den Reigen anführen wollte. (Fortsetzung folgt.)


Russische Steppenhexen in Nordamerika.

In den Prairiestaaten der nordamerikanischen Union klagt man seit einigen Jahren bitter über eine Hexeneinwanderung und sucht die fremden Hexen mit allen möglichen Mitteln auszurotten. Kein Wunder; denn diese Hexen schädigen aufs empfindlichste die Ernten und machen in verschiedenen Gegenden den Getreidebau geradezu unmöglich. Und das besagt viel; denn die Prairien sind längst keine gesegneten Jagdgründe mehr, in denen man unzähligen Herden von Büffeln begegnen könnte; sie sind zum großen Teil in Ackerland verwandelt worden und der Ackerbau bildet die Hauptbeschäftigung der Bewohner. Gerade in diesen Gebieten liegen die großartigen Farmen, die ihren Reichtum an Korn mit erdrückender Wucht auf den Weltmarkt schleudern, und seit dem Jahre 1887 marschiert das Prairieland Dakota, was die Weizenerzeugung anbelangt, an der Spitze aller Staaten der Union. Kein Wunder also, daß die Farmer der Prairien denen, die den Getreidebau bedrohen, unversöhnlichen Haß entgegenbringen!

Nun, diese neueste Hexenverfolgung kann man mit dem besten Gewissen billigen, denn jene Steppenhexen sind keine unschuldig verleumdeten Weiber, sondern Pflanzen, die zu dem gefährlichsten Unkraut auf Gottes Erde zählen.

Ihre Heimat sind die weiten Steppenländer Rußlands und Westasiens. Dort trieben sie seit jeher ihr wundersames Spiel, und auch in Deutschland hat dieser und jener, der sich für die Botanik interessiert, von ihnen gehört; denn sie zählen zu den Pflanzen, welche in höchst eigenartiger Weise die Kraft des Windes ausnutzen, um ihren Samen überall hin zu verbreiten. Mit dieser Eigenschaft sind viele Pflanzen ausgerüstet; auch in unserer heimatlichen Flur erzeugen viele Arten befiederten Samen, und auf Schritt und Tritt können wir bei uns zu Lande beobachten, wie im Sommer und Herbst der Unkrautsamen auf den Flügeln des Windes vom Wegrand auf Felder und in Gärten getragen wird.

Man kennt aber noch andere Vorrichtungen, durch welche verschiedene Pflanzenarten den Wind für ihre Verbreitung dienstbar machen. In dürren Ländern wächst eine Art Wegebreit, Plantago cretica, die im Frühling dicht über dem Erdboden Büschel steif aufrechter blütentragender Stengel treibt. Zur Zeit der Reife krümmen sich diese Stengel uhrfederförmig nach abwärts und reißen durch den Druck, den sie dabei ausüben, die kurze Pfahlwurzel aus dem trockenen Boden. Nun bildet die verdorrte Pflanze einen runden Ballen, der in seiner Mitte die vollen Fruchtkapseln birgt. Durch Windstöße wird der Ballen fortgeweht, rollt weit über den Boden hin, bis er in irgend einer Vertiefung liegen bleibt. So fegt der Wind den Samen über das Land.

Andere Steppenpflanzen besitzen gleichfalls die Eigenschaft, daß ihre Stengel, die Blüten tragen und Samen reifen, im Herbst sich zu Ballen oder kugeligen Gebilden zusammenrollen. Ihre Wurzeln werden jedoch dabei nicht aus dem Boden gerissen, sondern der Stengel fault nach eingetretener Reife am Wurzelhalse ab und die samentragenden Ballen werden dadurch frei und ein Spiel des Windes. Die Steppen Rußlands beherbergen eine Anzahl verschiedener Arten solcher Pflanzen, der Wind jagt die Ballen auf dem ebenen Boden umher; oft schließen sich einzelne zu größeren Haufen und Kugeln zusammen, die in Ausnahmefällen sogar die Größe eines Heuwagens erreichen können. Das Jagen und Rollen solcher Gebilde durch die Steppe macht in der That einen eigenartigen, gespenstischen Eindruck und das Volk hat sie darum auch „Windhexen“ oder „Steppenhexen“ genannt.

Es war im Jahre 1889, als im Leinsamen, der aus Rußland bezogen wurde, auch Samen einer dieser Pflanzen, der Salsola kali, nach Süddakota eingeführt und hier arglos ausgesät wurde. Das Unkraut ging auf und der Prairieboden Amerikas sagte ihm außerordentlich zu. Mit Staunen beobachteten die Farmer diese Fremde auf ihrem Boden, die wegen ihres stachligen Aussehens bald für eine Kaktusart, bald für eine Distel gehalten und jenseit des Oceans allgemein „russische Distel“ genannt wurde. Man war über das Erscheinen des neuen Unkrauts nichts weniger als erfreut, aber man unternahm auch keine Schritte zu dessen Vertilgung, da man keine Ahnung hatte, wie verderblich es werden sollte. Die „russische Distel“ reifte also auf dem Boden der Neuen Welt und nun begannen die Steppenhexen den Tanz im Winde durch die zum großen Teil baumlosen Prairien. Die reifen Ballen maßen 30 cm bis 1½ m im Durchmesser, jeder von ihnen enthielt Tausende und Hunderttausende Samenkörner; nichts konnte ihrem Vordringen eine Schranke setzen, sie stürmten hügelaufwärts, stürzten hinab in die Thäler, setzten über Gräben, Bäche und Flüsse, über Zäune und Dörfer und nach Jahr und Tag brachten die Steppenhexen unsägliches Leid über viele Farmen Dakotas. Die Felder waren durch das Unkraut verseucht und die russische Distel machte selbst die Ernte des verunreinigten Feldes unmöglich, da sie die Mähe- und Dreschmaschine verstopfte und zum Stillstand zwang. Nun ging man mit aller Energie ans Ausrotten, aber diese Arbeit erwies sich furchtbar schwierig, denn das Unkraut ist zäh. Selbst wenn es tief untergepflügt wird, so kommen die Schößlinge durch die dicke Erdschicht doch zum Vorschein und einige wenige überlebende Pflanzen sorgen für eine neue Verbreitung des Samens. Der Schaden, den das Unkraut bis jetzt angerichtet hat, ist sehr bedeutend. Von verschiedenen Seiten schätzt man ihn auf die gewaltige Summe von 80 Millionen Mark. Das mag eine Uebertreibung sein, ebenso wie die Behauptung, daß die Steppenhexen in den Prairiestaaten den Ackerbau unmöglich machen werden. Die Thatsache steht aber fest, daß in vielen Gegenden die Farmer den Getreidebau einstellen mußten. Dabei schreitet die Steppenhexe erobernd vor. Sie hat nicht nur ganz Dakota überzogen, sondern ist auch in Minnesota, Missouri, Iowa und Nebraska erschienen.

Wir möchten wünschen, daß es bald gelinge, diesen eigenartigen Kulturfeind zu bezwingen. Für alle Fälle aber ist der Verheerungszug des Steppenunkrauts jenseit des Oceans äußerst lehrreich und kann allen Landwirten als Warnung dienen.

Daß Pflanzen aus fremden Ländern ohne Absicht des Menschen verschleppt werden können, ist ja längst bekannt. Es ist nicht einmal nötig, daß ihr Samen mit fremdem Saatgut eingeführt wird. Er kann auch an anderen Stoffen haften. So wandern verschiedene Spitzenklettenarten mit der Wollindustrie durch die Länder, andere tauchen an den Abladeplätzen der Häfen und Eisenbahnstationen auf. Wie eigenartig mitunter die Wege sind, auf welchen fremde Pflanzen sich verbreiten, lehrt die Geschichte des Chrysanthemum suaveolens in Thüringen. Ursprünglich wurde es im Botanischen Garten zu Jena gepflegt, von dort breitete es sich in der Umgegend aus. Im Jahre 1887 trat es auf dem Schützenplatze in Greiz in größeren Mengen auf und benutzte fortan das Zelttuch der Schaubuden, um von Schützenplatz zu Schützenplatz zu gelangen. Mit der Zunahme des Verkehrs, mit dem wachsenden Austausch der Güter zwischen fernen Weltteilen wächst auch die Leichtigkeit der Verschleppung. Auch die Pflanzen begnügen sich heutzutage auf ihren Wanderungen nicht mehr mit natürlichen Mitteln, sie benutzen, um ihren Samen zu verbreiten, nicht nur Wind und Welle, nicht nur das Vließ der Tiere und das Gefieder der Vögel, sondern auch den Dampf, setzen zu Schiff über den Ocean und fahren Eisenbahn. Oft begrüßt der Naturfreund mit Freuden die Fremden, wenn sie, wie die elegante aus Chile stammende Gauklerblume, den heimatlichen Blumenflor erhöhen. Aber nicht immer kann man den Einwanderern trauen und der Landwirt handelt gut, wenn er beim Auftreten eines verdächtigen, in der Gegend bis dahin unbekannten Unkrauts sich über die Natur desselben bei Botanikern unterrichtet. Wissenschaftliche Institute nehmen solche Mitteilungen gern entgegen, bestimmen die fremden Pflanzen und geben bereitwillig die gewünschte Auskunft. [*     ]


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1895, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_715.jpg&oldid=- (Version vom 25.7.2023)