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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895)

Erster Textabschnitt: ( gemeinfrei ab 2025)


Das neue Heim des Reichsgerichts.

Von Hermann Pilz.

Vierhundert Jahre sind vergangen, seit unter Kaiser Maximilian I. im ehemaligen Deutschen Reiche neben dem Reichshofrat ein Reichskammergericht eingerichtet wurde, das „nach des Reichs und gemeinen Rechten und nach ehrbaren und verliehenen Ordnungen und Statuten“ entscheiden sollte, was in deutschen Landen Rechtens sei. Es sollte über alle Rechtssachen der Reichsunmittelbaren urteilen und zugleich die höchste Instanz für die Reichsmittelbaren in Civilsachen sein. Das Reichskammergericht, von dessen Jämmerlichkeit Goethe im dritten Teil von „Dichtung und Wahrheit“ ein anschauliches Bild giebt, bestand aus einem vom Kaiser ernannten Kammerrichter fürstlicher oder gräflicher Abkunft, zwei Präsidenten und einer Anzahl Assessoren. Da aber die Sporteln, von denen die Assessoren bezahlt werden sollten, nur spärlich eingingen, mußte man die Zahl der Richter mehr und mehr beschränken, die Prozesse schleppten sich mühselig dahin und die Reste wuchsen von Jahr zu Jahr. So wurde der oberste Gerichtshof Deutschlands allmählich zum Gespött. Unter Kaiser Joseph hatten sich bereits 20 000 Prozesse aufgehäuft. Jährlich konnten nach Goethes Aufzeichnungen 60 abgethan werden und das Doppelte kam hinzu. Das Reichskammergericht hatte seinen Aufenthalt in verschiedenen Reichsstädten genommen, bis es endlich 1693 in Wetzlar seßhaft wurde. Mit dem alten Deutschen Reich ging es zu Grunde – mit dem neuen Deutschen Reich lebte ein neues, oberstes Gericht auf, das nach dem Gesetz vom 11. April 1877 seinen ständigen Sitz in Leipzig hat, – das Reichsgericht! In ihm ging auch das Reichsoberhandelsgericht auf, das auf dem Gebiete des Handels schon ein einheitliches Recht sprach und ebenfalls in Leipzig seinen Sitz hatte.

Die verurteilende Justiz.
Kalksteingruppe von Otto Lessing im Treppenhaus.

Ohnmächtig wie das alte Reich war sein oberstes Gericht. Stark und kraftvoll wie das neue Reich wurde auch das neue Reichsgericht organisiert. Wie das alte Reich, so war auch sein Gericht ohne Würde und Ansehen, und es konnte vorkommen, daß Städte wie Frankfurt a. M. es ablehnten, diesen Gerichtshof in ihren Mauern aufzunehmen. Anders das neue Reichsgericht. Es war ein langer Streit um dasselbe, und namentlich die Reichshauptstadt des Deutschen Reiches hätte es gern in ihren Bereich gezogen. Aber Leipzig blieb Siegerin im Streite, und heute ist dem Reichsgericht in der Lindenstadt an der Pleiße ein Heim aufgerichtet, so imposant, so würdevoll, so künstlerisch schön, wie es dieser oberste Gerichtshof eines starken, machtvollen Reiches verdient.

Die deutsche Kunst hat im neuen Reichsgerichtsgebäude einen ihrer schönsten Triumphe gefeiert. Am 31. Oktober 1888 wurde in Gegenwart Kaiser Wilhelms II. und König Alberts von Sachsen der Grundstein zu dem Bau gelegt, der nun vollendet vor unseren Augen steht,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1895). Leipzig: Ernst Keil, 1895, Seite 748. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1895)_748.jpg&oldid=- (Version vom 30.8.2023)