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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

erleichtertes Aufatmen: „Gott sei Lob und Dank! Ich hätte auch nicht gewußt, wie ich es ertragen sollte!“

Sein eigenes Verhältnis zu dem Mädchen war kühl und förmlich. Je mehr Leonies Mutter in voller Harmlosigkeit die alten, innigen Beziehungen früherer Jahre betonte und Onkel und Nichte ermahnte, dieselben zu erneuern, je mehr sie das „Einst“ mit dem „Jetzt“ verglich und, nach Frauenmanier, zahlreiche Details beibrachte, um das damalige gute Verhältnis der beiden zu einander zu beleuchten, um so aussagender zog sich das Mädchen zurück, um so steifer und fremder benahm sich der Mann. Ihn quälte es mehr, als er es je hätte in Worten sagen können, dies Mädchen in seinem Hause zu wissen, es täglich in seiner Nähe zu haben. Dabei sagte er es sich unausgesetzt vor, wie er sie vermissen würde, wie ihm Haus und Garten, Wald und Feld leer und ausgestorben erscheinen müßte ohne sie. Er kostete jetzt schon den Trennungsschmerz durch, malte sich’s aus, wie es sein würde, von Zimmer zu Zimmer zu gehen und nie mehr die schlanke, leichte Gestalt mit dem holden zarten Gesicht zu sehen. Wenn auch! Ihr Schritt trieb ihm das Blut zum Herzen, ihre Stimme ließ ihn zusammenschrecken, wie wenn er eine böse That begangen hätte, und als er vollends zufällig einmal hörte, wie sie ihre Mutter bat, bald mit ihr heimzureisen, war seine Seele randvoll mit Bitterkeit angefüllt. „Natürlich! Sie will mit Gewalt fort! Sie kann es schon nicht mehr abwarten, aus der Nähe von mir häßlichem Kerl zu kommen.“

Der Zigeuner war nie eitel gewesen und hatte aus der Betrachtung seines äußeren Menschen nie ein Studium gemacht. Jetzt that er das und das Resultat fiel nicht zu seinem Trost aus. Er fand sich häßlich, unsagbar häßlich mit seinem braunen Kolorit, den dichten schwarzen Brauen, den finsteren dunklen Augen. „Solch’ ein Gesicht, wie ich es habe“, entschied er bei sich, „kann nie und nimmer einem jungen Mädchen gefallen“. Kein Wunder, wenn die Leute oft auf der Straße stehen bleiben und mir nachstarren! Wie ein Verbrecher seh’ ich aus, wie ein Mensch, der einen Mord auf seinem Gewissen hat! Wenn mich ein Mädchen zum Mann nehmen würde, so wär’ es höchstens eine Arme oder Häßliche, die Angst hat, sonst keinen Mann zu bekommen, oder die mich für eine gute Partie hält. Bei ihr fällt das natürlich ganz fort, es wäre also lächerlich, auch nur den leisesten Versuch zu machen, ob ich ihr am Ende gefallen könnte. Und lächerlich machen will ich mich nicht!“

(Schluß folgt.)

Unseres Aeltesten erster Schulgang.

Erlebnisse und Gedanken einer Mutter. 0 Von Regine Busch.

Große Ereignisse werfen ihren Schatten voraus. Seitdem der Tannenbaum geplündert ist und die neuen Weihnachtsspielsachen ihrer Natur nach entweder gleich entzwei gemacht worden sind oder sich zu treuen Spielkameraden entwickelt haben, leben wir im Schatten des großen Ereignisses. Unser Aeltester kommt Ostern zur Schule.

Es ist ein Vorrecht des ältesten Kindes, daß seine Eltern mit ihm und an ihm alle Elternsorgen und Elternfreuden zum erstenmal erleben, zum erstenmal, das will sagen, so frisch, so lebhaft wie kein zweitesmal wieder, denn auch hier stumpft die Gewohnheit ab. Noch sind wir es nicht gewohnt, ein Schulkind zu besitzen, wir sehen der Sache mit glühender Spannung entgegen.

Am gleichmütigsten benimmt sich entschieden die Hauptperson dabei. Auf die zahlreichen Anfragen seiner zahlreichen Tanten. „Freust du dich denn recht auf die Schule?“ pflegt unser Junge, die Hände in den Hosentaschen haltend, herablassend zu antworten. „Das kann ich doch jetzt nicht wissen, wie es da ist. Das muß ich mir doch erst ’mal ansehen.“

Diese zärtlichen Anfragen hört er zu Hause weniger, aber an Anklängen auf das kommende, unabwendbare Schicksal fehlt es ihm auch hier nicht. Der Vater pflegt einigemal am Tage loszudonnern. „Junge, wenn du erst zur Schule gehst, wird dir das schon ausgetrieben werden. Das Kindermädchen bemerkt öfters höhnisch. „An dir wird der Lehrer auch noch seine Freude erleben“. Und die Köchin ruft ihm energisch nach, wenn er vor ihr quer über den feuchten, frischgeseiften Fußboden rennt. „Gott sei Dank, wenn wir dich bald los sind.“ Der kleine Bruder stellt sich dunkel eine kommende, goldene Zeit der Freiheit vor und meint: „Und dann krieg’ ich alle Hans’ seine Spielsachen.“

Die Mutter ist die einzige, die ihn vermissen wird. Ja, ich werde ihn entbehren, trotzdem er mich mit seinem ewigen „Warum?“ und unausstehlichen „Was soll ich jetzt ’mal thun?“ – gründlich plagte, trotzdem ich einsehe, daß Pflicht und Arbeit in sein kleines Leben herein muß, ich werde ihn entbehren, trotzdem und alledem.

Der erste Schritt ist’s, den ich nicht mit dir thun kann, mein Junge! Eine unbekannte dritte Größe kommt in unser Leben herein, und wir werden wohl beide noch oft genug unzufrieden mit ihr sein, wenn auch jeder auf seine eigene Faust und Art. Wir können auch beide nicht viel dagegen ausrichten, und ich darf dir nicht einmal recht geben, mein Sohn, gegen diese fremde Schulmacht.

Auch in unser Haus und die süßen Gewohnheiten des Daseins, in die wir uns miteinander eingelebt haben, greift die Schule unbarmherzig ein. Ich sehe unseren schönen Morgenschlaf dahinschwinden, denn unerbittlich pünktlich fordert sie unser Schulkind reingewaschen und sattgegessen an jedem Morgen.

Und sind ’mal Ferien, so fallen die ja nach Ansicht aller Eltern immer in eine Zeit, wo man die Kinder wirklich schlecht zu Hause gebrauchen kann, und nie hübsch mit dem guten Wetter und der besten Zeit zur Sommerreise zusammen.

Und dann das schlimmste von allem, die Schularbeiten!

„Ach,“ sagte mir eine Mutter neulich seufzend, „nun sind Ihre guten Tage auch bald vorbei. Sie glauben nicht, wie dies Arbeiten mit den Kindern aufreibt! Ich sitze den ganzen Nachmittag bei unserm Max und die teueren Nachhilfestunden hat er außerdem, und doch ist’s sehr fraglich, ob er Ostern versetzt wird.

Auf meinen freundlichen Vorschlag, ihn doch ruhig sitzen bleiben zu lassen, hatte die Dame nur einen sittlich entrüsteten Blick. „Würden Sie denn diese Schande an Ihrem Kinde erleben wollen?“

Ja, diese sogenannte Schande wäre mir entschieden lieber als solch ein künstliches, ungesundes Nachhelfen und Durchziehen, das die Kinder auf Kosten ihrer natürlichen Entwicklung treibt und hetzt und sie denkfaul und unselbständig macht.

Diese Treibhausresultate halten doch nicht im Leben, kaum in den höheren Schulklassen vor. Einem schwachbegabten Kinde werden wir natürlich zu Hause mit Vernunft und Geduld beistehen müssen, damit es den Ansprüchen der Schule möglichst folgen kann. Ich meine aber, für ein normal begabtes Kind müßte es genügen, wenn ihm im Elternhause die nötige Ruhe und eine bestimmte Zeit zum Arbeiten gegeben wird und nicht noch wer weiß welche Hilfsmannschaften aufgeboten werden. Wie sollen Pflichtgefühl und Ausdauer in unserm Kinde groß werden, wenn wir es nicht die Verantwortung für seine Arbeit selbst tragen lassen? Warum sollen wir es künstlich, nur um unsern eigenen Ehrgeiz zu befriedigen, vor allen Schulstrafen bewahren? Laß es doch hier schon lernen, daß Schuld und Strafe sich unerbittlich folgen.

Ja, mein Aeltester, wir wollen erst unsere Erfahrungen miteinander machen, aber ein Sklave deiner Schularbeiten will ich nicht werden. Aber ich will ein Anderes, ein Besseres: Ich will für dich und mich einen Segen von deiner Schulzeit, deinem Lernen haben. Wir jungen Frauen tragen so viel halbes Wissen mit uns herum und so viel Sehnsucht nach mehr Klarheit und echter Bildung!

Unsere Mütter vor uns haben das nicht oder doch nur dumpf gefühlt, die Generation nach uns findet vielleicht von vornherein einen besseren, gesünderen Bildungsweg als den, welchen wir als „höhere Töchter“ wanderten. Wir jungen Mütter fühlen demütig die Mängel der eigenen Erziehung. So groß ist die Verantwortung für die Seelen unserer Kinder; so ungenügend unsere Vorbildung, unsere Kraft.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_306.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)