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verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Grasdach, die in der Geschichte der deutschen Kolonisation einst eine bedeutsame Rolle spielte, in naturgetreuen Nachahmungen von innen und außen bewundern, sondern auch die wirklichen Kinder und Erzeugnisse Ostafrikas kennenlernen.

Und nun hinein ins Vergnügungsviertel! Da bildet eine recht bemerkenswerte Sehenswürdigkeit das Alpendiorama, dessen Aeußeres wir auf einem unserer Bilder wiedergeben. Es stellt die Burg Taufers bei Meran in Tirol vor. Durch das Burgthor gelangt man ins Innere, zum Bahnhof einer Drahtseilbahn, auf der wir an einer Fahrt in luftige Höhen teilzunehmen glauben. Wir überwinden in wenigen Minuten die schwierigsten Bergpartien und genießen in vollen Zügen prächtige Aussichten auf die großartige Alpenscenerie mit ihren Bergen, Thälern und Gletschern. Erwähnenswert ist ferner das Jerusalem-Panorama in dem mit zwei babylonischen Türmen gezierten Rundbau, das Theater mit seiner dorischen Tempelfassade, in dem die leichtgeschürzte Muse ihr Wesen treibt, und die Wasserrutschbahn, wie sie, nur kleiner angelegt, im vorigen Jahr auf der Berliner Ausstellung zu finden war. Ein anderes Panorama führt uns in die Welt Nansens hinein. Wir sehen das zu einem Eisgebirge erstarrte Meer vor uns, auf dessen Bergen sich wirkliche Eisbären in Freiheit tummeln. Ein tiefer Graben zwischen Schaubühne und Publikum schützt letzteres vor jeder Gefahr. Wärter, die wie Eskimos in Felle gehüllt sind, bilden die Staffage des Bildes. Da steigt über die bläulich schimmernden Eisberge langsam ein Riesenungetüm empor. Sollte Andree doch das kühne Wagnis unternommen haben? – Doch nein, es ist der Fesselballon, von dessen Gondel wir aus einer Höhe von 500 m das Ausstellungsgelände überblicken und weit ins Land hinein sehen können. Von anderen Schaustellungen besichtigen wir noch die kleine elektrische Stufenbahn und die Taucherstation. Nun besteigen wir die elektrische Rundbahn, die sowohl mit ober- als auch unterirdischer Leitung versehen ist und uns in kürzester Frist in das Kneipenviertel bringt, in welchem ein jeder seinen Nektar finden wird, vom braunen Bohnensaft in geschmackvoller Stufenleiter bis zum prickelnden Schaumwein hinauf.

Hier sitzen wir dann abends in einer der originellen Wirtschaften mit dem Blicke auf das weite Ausstellungsfeld, das in ein Meer von Licht getaucht vor uns liegt. Und wenn wir das, was wir gesehen, noch einmal an unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen, überkommt uns eine wahrhafte Ehrfurcht vor der Summe von Intelligenz und Fleiß, die sich hier bethätigt hat, und das beruhigende Gefühl steigt in uns auf: wie sich auch die Zeiten gestalten mögen, Industrie und Gewerbe Deutschlands, die auf eine beachtenswerte Vergangenheit zurückblicken können und sich der Gegenwart so vollkommen gewachsen zeigen, werden sicher auch eine glänzende Zukunft haben!


Onkel Zigeuner.“

Novelle von Marie Bernhard.

      (Schluß.)

Die Furcht, sich lächerlich zu machen, teilte Leo Gräfenberg mit unzähligen Männern, ist es doch nicht zu sagen, wieviel aufkeimende Neigung, wieviel stilles Wohlgefallen durch diese übertriebene Furcht schon zerstört worden ist. Das Bewußtsein seiner Häßlichkeit lähmte Leonie gegenüber alle Energie des sonst so thatkräftigen Mannes. Als er sich eines Abends zufällig neben ihr vor einem deckenhohen Spiegel befand und das Glas ihm die blonde, elfenhafte Erscheinung und dicht dabei sein dunkles Zigeunergesicht mit den finstern Augen zurückstrahlte – des jungen Mädchens Bewerber war zugegen, und Leo war halb toll vor Eifersucht – da schrak er förmlich zusammen, und der bloße Gedanke, ein so holdseliges Wesen für sich begehrt zu haben, erschien ihm als eine Art Frevel. Er machte schleunigst kehrt, ließ sich sein Pferd satteln und trug dem Bedienten auf, ihn bei den Damen zu entschuldigen, er habe eine wichtige Besprechung auf einem der Nachbargüter und werde voraussichtlich vor Anbruch der Nacht nicht zurück sein.

Unterwegs, da er einsame Wege ritt – an der Bestellung war natürlich kein wahres Wort gewesen – dachte er, wie dies seit der Anwesenheit seiner Stiefschwester auf Grünholm ihm öfter begegnete, über sein früheres Verhalten zu dieser vor ihrer Verheiratung nach. Er übersah es jetzt, nun er ein gereifter Mann war, ganz klar: es war schon in seinem Empfinden ihr gegenüber eine große, unbewußte Liebe gewesen, eine Liebe, die ihn antrieb, Käthe ganz für sich allein haben zu wollen, die ihn eifersüchtig und grollend beiseite stehen ließ, als es sich herausstellte, daß er keine erste Rolle mehr in ihrem Leben spielte. Er hatte das damals nicht zu unterscheiden vermocht, aber jetzt wußte er es: In seiner knabenhaften, ungestümen Manier hatte er seine Stiefschwester geliebt, und es hatte Jahre gedauert, ehe er dies Gefühl und diesen Schmerz in sich einigermaßen überwunden hatte. Die Liebe zu Käthes Tochter hatte nichts Unbewußtes mehr, aber sie war viel tiefer, viel empfindlicher noch, und derselbe eifersüchtige Grimm und Gram spielte heute, wie damals, seine Rolle. Sie lag tief in Leos Natur begründet, diese Ausschließlichkeit seines Gefühls … was er liebte, wollte er für sich allein besitzen, kein anderer sollte daran rühren dürfen.

Er brachte von seinem ausgedehnten späten Ritt den Entschluß mit nach Hause, sich durch irgend eine fingierte Botschaft abrufen zu lassen und für eine Zeit lang fortzugehen. Er konnte nicht so ungastlich sein, seine Schwester zur Abreise zu nötigen. Blieb sie aber und Leonie mit ihr, so mußte er das Feld räumen, denn dabei stehen und abwarten, ob sich das Mädchen nicht doch vielleicht unter dem Dach seines Hauses mit ihrem reichen Bewerber verlobte, und hinterher den Unbefangenen spielen – nein, das ging über seine Kräfte, das konnte er wirklich nicht! Er wurde in der Wirtschaft sehr notwendig gebraucht und konnte es eigentlich vor seinem Gewissen kaum verantworten, jetzt wegzugehen, aber es handelte sich um sein inneres Gleichgewicht, um die Ruhe seines Herzens, da mußte alles andere zurückstehen!

Es kam nicht dazu, diesen Plan in die That umzusetzen, denn am Morgen nach jenem Ritt eröffnete Frau Käthe ihrem Stiefbruder die Absicht, schleunigst abzureisen, und er konnte, unter den obwaltenden Umständen, kein Wort sagen, um sie zurückzuhalten – der junge Gutsbesitzer hatte am Tage zuvor um Leonies Hand geworben und sich dabei einen Korb geholt.

Frau Käthe war recht ärgerlich auf ihre Tochter. Nicht, daß sie das achtzehnjährige Mädchen schon aus dem Hause haben wollte oder daß sie um Leonies Zukunft in Sorge gewesen wäre … aber ihr, der Mutter, hatte der in Rede stehende junge Mann sehr gut gefallen, sie fand, ihre Tochter könnte sich keinen besseren Gatten wünschen, abgesehen davon, daß die „Partie“ eine der besten war, die es geben konnte und den weitestgehenden Ansprüchen genügt hätte. Leonie mochte diese weitestgehenden Ansprüche durchaus nicht. Sie hatte dem Bewerber, ebenso wie ihrer Mutter, in ganz knappen, kurzen Worte erklärt, sie habe gar nichts gegen ihn, aber sie liebe ihn nicht genügend, um ihn heiraten zu können. Der Freier hatte gefragt, ob sie Bedenkzeit wünsche – ob sie seine Liebe auf irgend welche Probe stellen wolle, er sei bereit, sich in alles zu fügen. Das junge Mädchen hatte sowohl die Bedenkzeit als auch die Probe dankend abgelehnt, sie wisse genau, was sie sage und thue, sie könne ihn nicht heiraten. Was war zu machen? Zwingen konnte und wollte die Mutter sie nicht, und so reiste sie denn in möglichster Eile mit dem „eigensinnigen, starrköpfigen“ Ding ab und betonte immer von neuem nachdrücklich. „Papa wird schön böse sein!“

Es war alles so rasch, so rasch gegangen. „Onkel Zigeuner“, der ziemlich schwerfällig war und zu allem gehörig Zeit brauchte, war kaum zur Besinnung gekommen, da waren sie schon fort. Er hatte die Nichte kaum mehr gesehen, die Mama hatte ihm alles erzählt, während Leonie in ihren Zimmern mit Einpacken beschäftigt war. Als der Wagen schon vor der Thür stand, war sie erst zum Vorschein gekommen, ein wenig blaß unter ihren weißen Schleier, hatte ihm die Hand gegeben und ein paar Worte gesagt – er wußte nicht mehr, was es gewesen war, doch wohl ein Dank für seine Gastfreundschaft. Es fiel ihm später ein, daß er sie sonst immer beim Abschied wenigstens auf Stirn oder Wange geküßt hatte, daß das sein gutes Recht als Onkel war; in seiner Verwirrung und Bestürzung hatte er sogar auf dies gute Recht verzichtet!

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verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_318.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)