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Blätter und Blüten.

Arbeiterkolonien in Bayern. Es ist noch nicht allseitig genug gewürdigt, welche hohe Bedeutung für die socialen Reformbestrebungen den ländlichen Arbeiterkolonien zukommt. Sie steuern nicht nur dem Stromertum der Landstraße, sondern eröffnen auch dessen besserungsfähigen Elementen sowie den Entlassenen der Strafanstalten den Wiedereintritt in die Welt der ehrlichen Arbeit. Was, bei anfangs geringen Mitteln, die rastlosen Bestrebungen einer Anzahl von opferfreudigen Männern hier zu schaffen vermochten, das sieht man beim Hinblick auf die beiden Kolonien Simonshof und Herzogsägmühle in Bayern, sie befinden sich beide in bestem Gedeihen, halten Zucht und Ordnung unter ihren Gästen und haben eine gute Anzahl von Vaganten die jeder Arbeit entwöhnt waren, durch Feldarbeit, Straßen- und Wasserbau, Waldpflanzungen u. dergl. wieder zur regelmäßigen Thätigkeit gebracht, sowie ihnen Stellen bei Privaten, Anstalten und Behörden als ländliche Arbeiter verschafft. Eine weitere bedeutungsvolle Aufgabe erwächst dieser Kolonie durch den Beschluß des Ministeriums, den bedingt Verurteilten statt Verbüßung ihrer Strafe im Gefängnis einen dreimonatigen Aufenthalt dort zu gewähren, um Besserung zu beweisen. Was es für einen bisher noch nicht Bestraften heißt, statt in die verderbliche Gesellschaft des Gefängnisses zu thätigen Menschenfreunden zu kommen, braucht keiner Ausführung, er sowohl als der sonst dem demoralisierenden Landstraßenbettel Verfallene finden hier die rettende Hand, welche sie aus dem Verderben wieder emporzieht und durch ihre eigene Kraft heilt. Simonshof besteht seit 8 Jahren, Herzogsägmühle wurde vorigen Herbst eröffnet. Bei dieser Gelegenheit gab der erste Vorsitzende, der um die Gründung und Erweiterung des Unternehmens hochverdiente Dekan Kahl von München, in seiner vom echt christlichen Geist der Duldung und Nächstenliebe durchwehten Rede eine anschauliche Schilderung von den Mühen und Erfolgen, von der Freude des Gelingens und den vielen definitiven Besserungen welche durch Schreiben der dankbaren Kolonisten und ihrer Arbeitgeber bezeugt werden. Aber er stellt auch fest, daß den 8000 Mitgliedern des Vereins noch 12 000 neue beitreten müßten, wenn alles erreicht werden soll, was in der Absicht des Unternehmens liegt!

Wir geben die Bitte des verdienstvollen Mannes an unseren großen Leserkreis weiter. So mancher im liebem Vaterlande häuft im stillen sein Kapital für seine nächste Familie. Möge er, im Gedanken an die Pflichten gegen die große Menschheitsfamilie, einen kleinen Teil seiner Ueberschüsse diesen segensreichen Arbeiterkolonien geben und der besten Verwendung sicher sein! Der Rechenschaftsbericht des Vereins nebst Statuten und den sehr interessanten Ausführungen über die bisherige Entwicklung der Kolonie ist von Herrn Sekretär Eichner, München, Gabelsbergerstraße 60 II. kostenfrei zu beziehen. Bn.     

Das neue Brüderchen.
Nach einem Gemälde von B. Genzmer.

Heimkehr vom Fischfang. (Zu dem Bilde S. 317) An die Ufer des Bodensees versetzt uns das stimmungsvolle Bild von A. Kappis. Sobald im Juni die allgemeine Frühjahrsschonzeit vorübergegangen, bietet das erwachende Fischerleben auf dem Obersee dem Fremden häufig interessante, malerische Bilder. In den Vormittagsstunden sieht man meistens die ganze, an 50 Boote starke Flotte am Eingang des Ueberlinger Sees kreuzen. Weithin glänzen bei auffrischendem Wind ihre weißen Segel über die blaue Fläche – und wenn die oft schon in der Nacht in See gegangene Mannschaft endlich ermüdet an einem der Ufer landet, entwickelt sich dort stets ein buntes, das Auge fesselndes Treiben. An den Quais von Ueberlingen und Meersburg liegen ihre großen dunklen Kähne dicht aneinander gereiht und auf den Bänken und Netzen schlafen nach eingenommenem Vespertrunk lang hingestreckt die braunen Kraftgestalten der Fischer mit den sonnverbrannten nackten Füßen – ein Anblick, der ganz an ähnliche Bilder in südlicheren Ländern erinnert. Man darf den wetterharten Leuten die Ruhe nicht mißgönnen, sobald die vier, die ein jedes Schiff zur Bemannung braucht, rudernd und steuernd mit ihren plumpen Schaufeln wieder bei der Arbeit sind, sieht man, wie schwer sie im Kampf ums Dasein das tägliche Brot erringen müssen. Wohl ist der Bodensee reich an Fischen und von seinen 26 verschiedenen Arten, unter denen der Wels als größter bis 1½ Meter lang und an 100 Kilo schwer wird, sind die schmackhaften Blaufelchen und die zur Winterszeit zum Versand gelangenden delikaten geräucherten Gangfische weit über seine Ufer hinaus bekannt, allein die große Tiefe des Obersees erschwert den Fang, und wenn sich die Fischer nicht nebenbei noch mit Landwirtschaft beschäftigten, würde die Beute für ihren Lebensunterhalt kaum ausreichen. Tritt der Fischer nach schwerer Arbeit den Heimweg an, so erwartet ihn im Kreise der Seinen eine bescheidene Abendmahlzeit, die fast durchweg aus Kaffee und Kartoffeln besteht. Fleisch sieht er nur des Sonntags auf seinem Tische, für gewöhnlich begnügt er sich mit Speck und Brot, als Getränk dient der landesübliche Most und nur an Feiertagen gestattet er sich im Wirtshaus ein Glas Bier oder Wein. Von Natur ernst und schweigsam, ist der allemannische Fischer doch nicht ohne Humor und das Bewußtsein seiner Kraft verleiht ihm auch einen trotzigen Sinn, der ihn zähe an alten Rechten, Sitten und Gebräuchen festhalten läßt. F. W.     

Die Testamentseröffnung. (Zu dem Bilde S. 320 u. 321) Wir sehen in ein aufregendes Drama, obgleich alle Beteiligten ihre äußere Ruhe bewahren. Seit Wochen, so lange der alte Sonderling, der Besitzer der mit Gold und Papieren gefüllten Truhe, seinem Ende zuging, ist die Neugier der Stadt aufs höchste erregt: wem wird die Erbschaft zufallen? Direkte Erben sind nicht vorhanden, seine entfernteren Verwandten aber, den stattlichen Präsidenten mit der hochmütigen Gemahlin, den Minister, der hier den Ehrensitz einnimmt, und den einflußreichen Kammerherrn, der sich auf die Lehne stützt – sie alle, wußte er, trotz vielfach bezeigter Liebe und Teilnahme, stets in höflicher Entfernung zu halten. Auch der gelehrte Magister, der an Neujahrs- und Geburtstagen regelmäßig sein Poem überbrachte und sich dabei so beflissen mach dem Befinden des wertgeschätzten Herrn Onkels erkundigte, auch er vermochte trotz aller angewandten Kunst keine leiseste Andeutung aus dem alten Geizhalse herauszupressen. Einem von ihnen oder allen zusammen mußte aber doch die Erbschaft zufallen, denn daß der Alte einen andern Vetter mit bedenken würde, der seit Jahrzehnten der Familie die Schande anthat, als simpler Tischler hier am Orte zu leben, verheiratet mit einer schlichten Meisterstochter und Vater einer zahlreichen, auch am Handwerk haftenden Familie – das war doch ganz unmöglich! Und siehe da! Eben diese Unmöglichkeit ereignet sich vor ihnen allen. Der Notar liest mit lauter Stimme. „Zum Haupterben ernenne ich meinen Vetter Christian, dem es im Leben nicht so geglückt ist, als seine Rechtschaffenheit verdiente, wie ich wohl weiß, obgleich er mir niemals der Erbschaft wegen um den Bart ging. Das letzte Drittel mögen sich die andern teilen!“

Man betrachtet mit Vergnügen die Wirkung dieser Worte auf sämtliche Personen des lebensvollen Vorgangs, der uns ins 18. Jahrhundert versetzt, die Ueberraschung der glücklichen Erben, die mühsam bewahrte Haltung der übrigen, die wohlwollende Miene des Notars, den anteilvollen Blicken des alten Schreibers und nicht minder den behaglich altertümlichen Raum, welcher dieser Testamentseröffnung zum Schauplatz dient. Bn.     


Inhalt: [ Inhalt von Wochen-Nr. 19/1897 ]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner in Stuttgart. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.
Druck von Julius Klinkhardt in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 324. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_324.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)