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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 22.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Die Hexe von Glaustädt.

Roman von Ernst Eckstein.
(2. Fortsetzung.)
4.

Doktor Gustav Ambrosius wohnte am Marktplatz. Er hatte im zweiten Geschoß des Schreiners und Zunftmeisters Karl Wedekind etliche Stuben gemietet und sie teilweise mit seinem eigenen Mobiliar ausgestattet. Eine Wirtschafterin hielt er nicht. Die Wedekinds lieferten ihm das erste Frühstück und, wenn er nicht draußen blieb, ein schmackhaftes Abendbrot. Zu Mittag speiste er drüben im „Goldnen Schwan“.

Es war in der ersten Woche des Juni, acht Tage vielleicht nach dem Erlebnis Hildegards mit dem Tuchkramer. Die Stadtpfeifer und Zinkenisten hatten vor mehr als anderthalb Stunden schon ihren Abendchoral von der Steinbrüstung des alten Marienturms in die Gemarkung geblasen. Elma Wedekind, des Schreiners und Zunftobermeisters fünfzehnjähriges Töchterlein, stand in der Mittelstube des Doktor Ambrosius und deckte mit Eifer und Umsicht den viereckigen Eichenholztisch. Sie hatte ein schneeweißes, blaugerändertes Linnen darüber gebreitet und setzte nun Glaustädter Milchsemmeln, Lynndorfer Landbrot, Rauchfleisch, Salz und sonstiges Zubehör in zierlicher Anordnung auf die Tafel. Auch ein Spitzbecher aus meergrünem Muranglas prangte bei Messer und Gabel, und ein blitzblanker Zinnkrug, der im benachbarten Rathauskeller jetzt eben mit leichtem Glaustädter Wein gefüllt worden war.

Nachdem sie das alles mit Sorgfalt zurecht gerückt, stieg Elma Wedekind eilig ins Erdgeschoß, wo sie ein schwarzblaues Thongefäß mit köstlichen Frührosen von dem Gesims neben der Küche nahm. Dies Thongefäß trug sie hinauf in die Mittelstube, setzte es neben den funkelnden Zinnkrug und freute sich, wie die hochroten Kelche und das frischgrüne Blattwerk dem sauber gedeckten Tisch etwas geradezu Festliches gaben.

„Er braucht’s und verdient’s!“ sagte sie bei sich selbst. „Traurig genug, daß er nun hier so allein Imbiß hält! Von morgens bis abends opfert er sich für die andern, und wenn er dann heimkehrt, hat er nicht einmal wen, der ihm in Freundschaft zuspricht! Gar nun heute, bei diesem herrlichen Wetter! Da fühlt man sich doppelt einsam.“

Plötzlich kam es ihr dumpfig und schwül vor in dem niederen Gemach, obgleich das eine der beiden Fenster weit aufstand. Sie trat hinzu und öffnete auch das zweite. Wie schön da jenseit des Marktbrunnens die Dächer und Giebel glänzten im Glührot des Abends! Die Dachtraufen, die Wolfs- und Lindwurmköpfe der Wasserspeier, die Wetterfahnen und Erkerverzierungen, alles schien wie verwandelt. Die mächtige Sonnenuhr am Gasthof zum „Goldnen Schwan“ lag schon im Dunkeln. Nun mußte er gleich um die Ecke biegen, da rechts von der Haingasse her. Heute

Pfingstproviant.
Nach einer Originalzeichnung von J. B. Engl.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 357. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_357.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2023)