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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Aus Mitleid.

Novelle von Emma Merk.

(Fortsetzung.)

Nach dem Besuch Hedwigs fühlte sich Forstner merkwürdig erregt. Viele, viele Wochen lang war sein Leben so ganz einsam gewesen. Nun klang die fremde, sanfte Mädchenstimme ihm lange im Ohre nach. Hedwigs Anliegen beschäftigte ihn, wie ein Ereignis in seinem einförmige dahinschleichenden Krankendasein. Er schlief schlecht und der Arzt fand ihn erregt und fieberisch.

„Was haben Sie denn, lieber Regierungsrat? Ihr Puls geht ungewöhnlich schnell.“

„So mancherlei Gedanken, die mir nicht aus dem Kopf wollen! – Ich möchte die Wahrheit wissen,“ stieß er dann mit einem raschen Entschlusse hervor. „Wie lange habe ich noch zu leben, Herr Doktor?“

Der Arzt lachte wieder sein gezwungenes Lachen.

„Gehen Sie im Frühjahr in den Wald und horchen Sie auf den Kuckucksruf, lieber Rat. Dann fragen Sie: wie lange habe ich noch zu leben? So oft er antwortet, so viele, Jahre bleiben Ihnen zugemessen. Zehn, zwanzig, dreißig!“

„Ich sprach im Ernst, Herr Doktor,“ sagte Forstner vorwurfsvoll.

„Aber ich weiß es wahrhaftig nicht besser als der Kuckuck. Um kein Haar besser als der Kuckuck. Sie überschätzen mein Wissen, Herr Regierungsrat. Wenn wir Aerzte in der Zukunft lesen könnten, ja dann wären wir gemachte Leute!“

Diese ausweichende Antwort bestätigte dem Kranken nur was er selbst ahnte, nein – wußte. Er hatte seine Krankheit genau studiert. Ein Jahr noch! Vielleicht bis zum nächsten Winter! Natürlich, der Doktor, der mußte ihm ja Mut machen und ihn zu täuschen suchen, so lange es ging. Aber für ihn war es besser, sich keinen nutzlosen Hoffnungen hinzugeben und sich in das Unabänderliche zu fügen.

Er brütete in diesen Tagen nachdenklich vor sich hin. Ein paarmal setzte er sich vor seine Schreibmappe und nahm einen großen Bogen. Dann schüttelte er wieder den Kopf und legte die Feder weg. Endlich begann er doch einen Brief, aber einen ganz kurzen:

           „Sehr geehrtes Fräulein!

Möchten Sie die Freundlichkeit haben, mich in den nächsten Tagen wieder aufzusuchen, damit ich in der Angelegenheit, in der Sie sich von mir einen Rat holen wollten, mit Ihnen Rücksprache nehmen kann. Ich darf leider nicht ausgehen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Sie zu mir zu bemühen.“

Die Haushälterin verschluckte nur mühsam eine Bemerkung, als sie die Aufschrift „Fräulein Rautenbach“ las, und meldete am nächsten Tage mit höchst ungnädiger Miene:

„Das Fräulein in Trauer ist wieder da!“

Diesmal schien der Regierungsrat fast noch befangener als Hedwig, die ihn erwartungsvoll, mit einem Ausdruck kindlicher Dankbarkeit anblickte. Die Freude, daß er sich ihrer annahm, das Interesse, zu hören, was er ihr sagen würde, röteten ihre Wangen. Er sah in dem hellen Licht, in dem sie ihm gegenübersaß, mit einer gewissen Verwunderung, wie jung sie noch war; nur der seltsame Anzug, der Frauenhut ließen sie alt erscheinen. Aber auf ihrem schmalen Gesicht war kein Fältchen; sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre alt sein. Diese Beobachtung erweckte ihm wieder Zweifel über sein Vorhaben. Aber er mußte wohl reden, nachdem er sie zu sich beschieden hatte.

„Sie haben den Wunsch geäußert, eine Stelle anzutreten. Sie sprachen davon, daß Sie auch Krankenpflegerin werden würden.“

„Ja, gewiß, Herr Regierungsrat. Das ist der einzige Beruf, in dem ich Vorübung besitze, vielleicht auch ein wenig Geschick.“

Er nickte. „Ich habe mich ja überzeugen können, wie gut Sie für Ihren Vater sorgten.“

„Wissen Sie eine Stelle?“ frug sie lebhaft „O, ich wäre Ihnen so dankbar!“

Er hüstelte ein wenig. Seine Hände spielten nervös mit dem Falzbein, das er vor sich liegen hatte.

„Ich habe mir Ihre Worte überlegt, liebes Fräulein, und – da ich schon früher mit dem Gedanken umgegangen bin, mir eine Pflegerin zu nehmen – ich bin ja immer noch recht schwach und elend und es wird jeden Tag schlimmer – so meine ich, es wäre uns beiden geholfen, wenn Sie während der kurzen Zeit, die ich noch zu leben habe, bei mir blieben.“

Sie war sehr verlegen geworden und machte eine erschrockene Bewegung. Kam ihr sein Vorschlag seltsam vor oder überraschte es sie, daß er so ruhig von seinem baldigen Ende sprach? Er wußte sich ihre Miene nicht zu deuten. Er war selbst bedrückt von dem, was ihm noch zu sagen blieb, und zögerte, fortzufahren.

„Ich fürchte, Sie bieten mir das nur an, weil ich Sie gebeten hatte! Und – Sie werden sich auch bald wieder erholen,“ stammelte sie sehr verwirrt, mit dem hilflosen Blick ihrer großen braunen Augen, der etwas Rührendes für ihn hatte.

„Nein nein! Ich bin mir über meinen hoffnungslosen Zustand ganz klar. Ich brauche eine Pflegerin über kurz oder lang. Schon jetzt –“ er senkte die Stimme. – „Meine Haushälterin ist in der Küche viel besser am Platz als bei einem Kranken. Sie sehen: es ist nur Egoismus, wenn ich Ihnen diese ernsten Pflichten zumute. Aber – aber ich habe dabei auch an Sie gedacht. Ich versprach Ihrem Vater damals, als ich ihn das letzte Mal sah, daß ich mich seiner verwaisten Tochter annehmen wolle. Da meine Tage gezählt sind, kann ich das nur in einer Weise thun: ich hinterlasse Ihnen meine Pension, vielmehr die Pension, die der Staat meiner Witwe ausbezahlt. Damit Sie darauf Anspruch haben, ist freilich eine Formalität nötig: Sie müssen sich mit dem kranken Mann, dessen Pflegerin Sie werden sollen, trauen lassen. In aller Stille, hier in diesem Zimmer, das ich wohl nicht mehr verlassen werde.“

Ihr Gesicht war mit Glut übergossen. Sie hatte immer noch den furchtsamen, erschrockenen Ausdruck. Da sie schwieg, fuhr er fort:

„Es hat mir einige Bedenken gekostet, ob ich dem Staat gegenüber nicht ein Unrecht thue, wenn ich mich in Erwartung des Todes verheirate. Ich fürchte, ich werde nicht mehr viel arbeiten können. Aber ich bin zu der Ansicht gekommen, daß ich durch eine fast zwanzigjährige Dienstzeit auf diese Witwenpension ein Anrecht erworben habe. – Ueberlegen Sie sich meinen Vorschlag, liebes Fräulein. Sie sind ja sehr jung für ein so trauriges Amt. Aber es wird wohl nicht lange dauern, und Ihre Zukunft wäre dann gesichert.“

Sie rieb die Hände aneinander, rückte auf ihrem Stuhl, kämpfend mit ihrer Schüchternheit, verlegen nach Worten suchend.

„Wenn ich Ihnen wirklich etwas nützen kann, so bedarf es für mich keiner weiteren Ueberlegung. Dann nehme ich dankbar an, was Sie mir anbieten,“ sagte sie endlich, stockte aber wieder wie in einer plötzlichen Furcht, er könnte ihre rasche Zustimmung mißdeuten.

„Glauben Sie nicht, daß es mir um meine Zukunft zu thun ist, Herr Regierungsrat, oder, wie Sie meinten, nur – um eine höhere Pension. Nein, nein, gewiß und wahrhaftig nicht! Ich wäre nur so froh, wenn ich wüßte, wo ich hingehöre, wenn ich nicht so ganz verlassen auf der Welt wäre! Ich kann Ihnen nicht sagen, wie furchtbar es ist, wenn man so gar niemand kennt und so mutterseelenallein ist.“

Er legte seine abgemagerte Hand auf ihre zarten schmalen Hände, die in schlichten schwarzen Wollhandschuhen steckten. Wie erlöst fühlte er sich, daß er ausgesprochen hatte, was er seit vielen Tagen und Nächten im Kopfe herumgewälzt, und daß sie sein Anerbieten so einfach und natürlich aufnahm. Gerade ihre kindliche Unbefangenheit gab ihr ein klareres Verständnis für seinen Vorschlag, als es vielleicht ein erfahreneres und weltklügeres Mädchen gehabt hätte. Daß er sie zu seiner Frau machen wollte, darauf legte sie sichtlich gar kein besonderes Gewicht. Sie würde wohl, nach wie vor, ihre Stellung im Hause als die seiner Krankenwärterin auffassen. Und so mußte es auch sein. Er gestand sich, daß er, wenn er gesund wäre und noch Lebenshoffnungen hätte, nicht daran denken würde, dieses Mädchen zu heiraten, das wie eine Klosterschwester aussah und von der er nur wußte, daß sie sanft und leise sprach und ging und mit weicher Hand Kissen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_367.jpg&oldid=- (Version vom 15.1.2018)