Seite:Die Gartenlaube (1897) 496.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Unter der Linde.

Novelle von Wilhelm Jensen.

     (2. Fortsetzung.)

Rasch ging die Operation von statten, der Arzt äußerte bald, indem er Albans Arm freiließ: „Da haben wir die Uebelthäterin,“ und die Kugel herausziehend, legte er sie auf den Tisch. Unter Beihilfe Gerlinds verband er die Wunde und drückte ihr dabei seine Anerkennung aus. „So gute Assistenz findet unsereins nicht jeden Tag, wie wär’s, wenn Sie einen Beruf daraus machten?“ Doch lachend fügte er mit einem Blick auf den Vater hinzu. „Nein, Sie haben einen besseren, dem ich Sie nicht abspenstig machen will. Wie steht’s denn mit Ihrer Leber? Ein Turmwart hat eben zu wenig Bewegung.“

Das letzte war an Toralt gerichtet und ließ erkennen, daß der Fragende schon zuvor als Arzt in der Türmerwohnung eingekehrt und mit den Verhältnissen darin bekannt war. Nach kurzer Ablenkung kam er auf den Fall, der ihn heute heraufgebracht, zurück. „Bei Ihrer gesunden Konstitution wird die Wunde rasch heilen und kommt nicht weiter in Frage, die viel wichtigere ist, auf welche Weise wir Sie in Sicherheit bringen. Ich bin höheren Orts selbst eine ziemlich mißliebig und mißtrauisch angesehene Person, so daß ich keinen Versuch wagen darf, Sie etwa auf einer nächtlichen Praxisfahrt über die Grenze zu schmuggeln. Zu lange aber dürfen Sie hier oben auch nicht bleiben, ’s ist gerade die Zeit, in der öfter Fremde wegen der Aussicht heraufkommen, und – ist übermorgen nicht auch ein Feiertag?“

Toralt nickte zu der an ihn gerichteten Frage, und der Arzt fuhr fort: „Da scheint’s mir dringend wünschenswert, bis spätestens morgen abend die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Wie denken Sie sich die Ausführung am besten?“

Alban verband kein Verständnis mit der Andeutung, daß ein Feiertag ihn hier oben mit besonderer Gefahr bedrohen könne, doch er fragte nicht und dachte auch nicht weiter darüber nach. Der nun folgenden Beratschlagung hörte er zu, als ob sie ihn nichts angehe, vernahm nur mit halbem Ohr, daß der Türmer den Plan erwogen und für den einzig möglichen ansah, seinen Schützling in Frauenkleidung fortzuschaffen. Er solle nach Einbruch der Dunkelheit, mit Gerlind zusammen, einen Wäschekorb tragend, die Stadt in der Richtung auf die Grenze umgehen, doch nicht suchen, diese auf Schleichwegen zu überschreiten, sondern auf der großen Straße gradeswegs am Zollwächtergebäude vorübergehen. Gerlind sei klug und ihre Sprache vollkommen unverdächtig, sie werde unbefangen zu schwatzen wissen und sich mit Geistesgegenwart richtig benehmen. Eine Zeit lang ward dieser Plan hin und her besprochen; der Arzt pflichtete dem Türmer schließlich bei, besonders darin, daß es am ratsamsten sei, den geraden offenen Weg auf der Landstraße zu wählen. Er seinerseits wollte am Nachmittag ins Schweizergebiet hinüberfahren, um genau zur verabredeten Zeit von drüben zurückzukommen und zur Zollvisitation vor dem Schlagbaum anzuhalten, während die beiden unter diesem von der anderen Seite her vorbeischreiten würden. Die Untersuchung seines Fuhrwerks, das er mit etwas Zollpflichtigem auszurüsten gedenke, werde die Achtsamkeit der Grenzwächter in Anspruch nehmen und sie leichter die ungewöhnliche Größe der einen Frauengestalt übersehen lassen. So kam’s zum Beschlusse. Der Arzt stellte seine Uhr genau nach derjenigen Albans, die Augen Gerlinds hatten sich mit stummem Glanz gefüllt, man sah in ihnen, wie ihr das Herz vor Freude bewegt war, daß ihr abermals die Hauptaufgabe bei der Rettung zufalle.

Der junge Arzt erhob sich nach endgültig getroffener Abrede, um fortzugehen; in Albans Gesicht that sich etwas Verlegenheit kund, die jener sofort bemerkte, einer Aeußerung zuvorkommend, sagte er. „Es war mir eine herzliche Freude, Ihnen auch ein wenig nützen zu können. Ich muß hier von Ihnen Abschied nehmen, morgen abend auf dem Wagen müssen meine Hand und mein Mund sich ruhig verhalten. Doch sage ich Ihnen nicht für alle Zeit Lebewohl, hoffentlich kommen doch noch andere Tage, die es Ihnen erlauben, den Fuß über den Grenzstrich zurückzusetzen. Und damit auf ein Wiedersehen im Leben und im deutschen Land!“

„Ja, haben Sie von Herzen Dank und nicht zum wenigsten für Ihren letzten Wunsch – auf ein freudiges Wiedersehen, in deutschem Land oder drüben! Wo es sei, Sie werden einen über die Begegnung Glücklichen finden!“ Beide drückten sich die Hand, Alban begleitete den selbstlosen Helfer bis an die Treppe hinaus.

Als er in die Stube zurücktrat, räumte Gerlind die bei der Operation benützten Gegenstände fort; sein Blick ging nach dem Tisch, auf den die Kugel gelegt worden war; er gedachte sie zur Erinnerung zu bewahren, doch sie lag nicht mehr dort. „Hast du sie mit weggethan?“ fragte er.

Das Mädchen richtete den Blick flüchtig nach dem Tisch und erwiderte. „Ja, wohl mit dem übrigen – in Gedanken – wollt Ihr –?“ Sie brach ab und setzte rasch hinzu: „Thut der Arm Euch gar nicht mehr weh?“

Er lächelte, und über seine jugendlich schönen Züge ging’s wie Sonnenlicht. „Nein, du hast ihm so wohl gethan – mit deinem kühlenden Wasser. Ich glaube, ich könnt’ ihn schon wieder gebrauchen.“ Mit einiger Anstrengung hob er den rechten Arm halb in die Höh’. Sie antwortete. „Ein gelehrter Herr braucht ihn ja notwendig, um wieder schreiben zu können.“

„Ja, sobald ich drüben bin, schreibe ich – daraus wirst du hören –“

Da er anhielt, fragte sie: „Was werd’ ich hören?“

„Wie gut du ihm gethan und daß er es nicht vergessen –“

Sich nach Namen und Herkunft des jungen Arztes erkundigend, sprach Alban hastig weiter. Doch seine Gedanken waren nicht bei dem, was er fragte und sagte, und auch an das Stückchen Blei, das er vorher Tage lang im Arm mit sich getragen, dachte er nicht mehr.

*  *  *

Nicht anders als sonst gab die Turmuhr dem Ohr vom Fortgang des Tages Auskunft, aber Alban Hartlaub war’s bei der Wiederkehr jedes Vollschlages, als sei die Stunde geflogen. Seine Natur hatte eine Veränderung erlitten, er war bisher nicht fähig gewesen, bei ruhigem Aufenthalt in einem Zimmer auch nur für kurze Zeit ohne geistige Beschäftigung zu sein, doch hier oben empfand er kein Bedürfnis danach, nicht einmal das, über irgend etwas zu denken. Als Toralt Obliegenheiten im Turm zu versehen hatte und das Mädchen sich zur Bereitung der Mittagskost in die Küche begab, genügte es ihm, unthätig zu sitzen und regungslos mit träumerischen Augen vor sich hinauszublicken, bis jene zurückkamen.

Eifrig berieten sie nach der Mahlzeit, wie seine Verkleidung zu bewerkstelligen sei, was Gerlind für den Zweck zu geben vermocht hätte, konnte, als fraglos für ihn zu eng und zu kurz, nicht in Betracht kommen. Doch ihre Mutter war kräftig und von hohem Wuchs gewesen, so holte sie aus einem alten Schrank von dieser hinterbliebene Kleidungsstücke herbei und half ihm, da er sich mit ihnen nicht zurecht zu finden wußte, beim Anlegen derselben. Das gab zu manchem Spaß Anlaß, sie begriff nicht oder that wenigstens so, als begreife sie nicht, wie jemand so ungeschickt sein könne. „Freilich, Euer Arm trägt wohl die Schuld und dann seid Ihr ja auch kein Mädchen. Doch habt Ihr keine Schwester? Oder wohl gar eine Braut?“

Es klang ein bißchen, als ob sie das erste gesagt habe, um die Frage nachfügen zu können; er verneinte schnell: „Ich habe niemand, an dem mein Herz hängt!“

Darauf antwortete sie nur: „Aber das Herz von manch einer hängt gewiß an Euch,“ und bückte sich eilig, den Rock tiefer auf seine Füße hinunterzuziehen. „Es muß gehen,“ sagte sie, „ich lasse den Saum aus.“

Wie sie sich wieder aufrichtete, strahlte ihr eine kinderhafte Fröhlichkeit aus dem Gesicht, sie wiederholte: „Es geht, nur über der Brust muß ich’s um ein gutes Stück weiter machen. Ihr seht so schlank aus, daß man meint, es wäre nicht nötig, aber ein Mann ist gehörig breiter in den Schultern als unsereins.“

Sie setzte sich und begann gleich mit Schere und Nadel thätig zu sein. Gewandt und leicht ging es ihr von der Hand.

Der Türmer nahm Hut und Stock, er wollte den Weg, den sie morgen um die Stadt bis zur Grenze zu machen hätten, nach der Uhr abgehen, um genau die erforderliche Zeit zu bemessen,

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1897, Seite 496. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_496.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)