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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Nr. 33.   1897.
Die Gartenlaube.
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahresabonnement: 7 M. Zu beziehen in Wochennummern vierteljährlich 1 M. 75 Pf., auch in 28 Halbheften zu 25 Pf. oder in 14 Heften zu 50 Pf.

Einsam.
Roman von O. Verbeck.

(2. Fortsetzung)

7.

Meine verehrteste Frau – mein Fräulein – Sie gestatten – eigentlich müßt’ ich mich Ihnen erst wieder regelrecht vorstellen. Ich darf gar nicht hoffen, daß Sie sich nach so langer Zeit meiner noch erinnern. Mein Gewissen schlägt mich förmlich.“

„Aber bitte, Herr Thomas!“ Mit ihrer blassen, leicht zitternden Hand wies Frau Wasenius auf den Stuhl ihr gegenüber. „Es lag ja in all dieser Zeit nicht die geringste Veranlassung für einen Besuch bei uns vor.“

„Keine offizielle, nein, das ist wahr. Der geschäftlichen Angelegenheiten wegen hätt’ ich wohl nicht herzukommen brauchen, die ließen sich ja durch die Post erledigen. Aber es hätte mir auch nicht geschadet, wenn ich mich von Zeit zu Zeit ein bißchen nach der Frau meines verehrten Lehrers umgesehen hätte. Rein menschlich. Meines Lieblingslehrers. Was aber nicht bedeutet, daß ich auch sein Lieblingsschüler gewesen wäre. Ich war ein ziemlich rüder Bengel, durchaus kein Lernkopf. Aber das meiste von dem, was ich weiß, verdank’ ich doch schließlich ihm; wenigstens ist vieles in späteren Zeiten aus allen möglichen Winkeln meines Gehirns hervorgeschossen gekommen, was seinen Stempel trägt. Etwas Dankbarkeit hätte mich also nicht schlecht gekleidet. Aber – man kommt ja zu nichts. Das hat man von dem Segen. Die Geschäfte wachsen, aber nicht die Zeit, sie unterzukriegen. Aus meinen Büchern seh’ ich, daß ich wahrhaftig vor fünf Jahren zum letztenmal hier im Hause gewesen bin. Damals nach dem schrecklichen Todesfall. Bis dahin war ja der Herr Doktor meistens zu mir ins Bureau gekommen, wenn etwas zu besprechen war. Also, meine verehrteste Frau –“

Hanna war überrascht.

So hatte sie den Herrn Bankier gar nicht in der Erinnerung gehabt. Freilich war ihre letzte Begegnung auch nur sehr flüchtig gewesen. Sie war just nach Hause gekommen, als er sich zum Gehen anschickte. Seine früheren vereinzelten Besuche, die in ihre Backfisch- und Kinderjahre zurückreichten, hatten noch weniger Eindruck hinterlassen. Aber sie erinnerte sich wohl, daß der Vater ihn gern gehabt hatte, obwohl er als Schüler nicht übertrieben mustergültig gewesen war. „Schadet nichts,“ hatte der alte Herr gesagt. „Er soll ja auch nicht Professor werden. Für einen Kaufmann weiß er genug und der Kern ist gut.“ Sie hatte in diesen fünf Jahren beinahe vergessen, wie er aussah. Nun saß sie neben der Mutter und betrachtete erstaunt diesen elegant gekleideten Mann, der mit seinen lebhaften braunen Augen

In der Beerenzeit.
Nach einem Gemälde von O. Beggrow-Hartmann.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_549.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2021)