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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Durch die Blume.
Nach dem Gemälde von A. Müller-Grantzow.




Die Hexe von Glaustädt.
Roman von Ernst Eckstein.

(13. Fortsetzung.)

Die Gassen waren schon beinahe menschenleer. Ein verspäteter Zecher stolperte lallend an den Hausthüren vorüber, pochte hier und da an die Fensterläden und verschwand um die Ecke. Dann alles still. Schwarz und phantastisch hoben sich die Drachen- und Hundeköpfe der Dachtraufen gegen das tiefblaue Firmament ab. Die Häuser links glänzten im Mondlicht; rechts ballten sich schwere, undurchdringliche Schatten.

Wenige Minuten, nachdem Doktor Ambrosius schweren Herzens den Doktor Rolf Weigel verlassen hatte, kam er an die thorlose Maueröffnung des Gottesackers. Der alte, verlassene Kirchhof lag stumm und feierlich in der grasüberwucherten Einsamkeit seiner halb schon vermorschten Grabsteine. Hier und dort ragten breitästige Linden empor. Das Mondlicht rann und rieselte wie geschmolzenes Silber um die sanft rauschenden Zweige und übergoß die Grüfte mit einer glitzernden Schneeflut.

Wer doch hier längst schon gebettet läge! dachte Ambrosius in plötzlicher Weltmüdigkeit. Die verewigten, die hier unter den Steinen und Kreuzen ausruhten, fühlten nicht mehr das furchtbare Verhängnis, das so mitleidslos über der Stadt ihrer Heimat schwebte! Wie war das alles doch so schweigsam und friedlich! Es fehlte nicht viel, und Doktor Ambrosius hätte sich gramüberwältigt in den taufeuchten Rasen geworfen und geweint wie ein Kind.

Da mit einem Male fuhr er zusammen. Er machte Halt. Schritte ertönten durch die lautlose Mondnacht – fern und geheimnisvoll … Es war, als hätte einer der längst verscharrten Schläfer da drunten sein Grab verlassen, um sich noch einmal der jungblühenden Linden zu freuen und der köstlichen Sommerluft. Dem jungen Arzt grauste ein wenig. Er schüttelte sich. Wenn ihm die thörichte Einbildungskraft einen schreckhaften Streich spielte! Krankhaft erregt wie er war, schien ihm dies wohl möglich. Er machte sich Vorwürfe, daß er nicht lieber den weiteren Weg über die Frohngasse genommen und den Kirchhof umgangen hatte, gleich den übrigen Glaustädtern, die sich nach Sonnenuntergang dem verlassenen Gottesacker grundsätzlich fern hielten.

Alsbald aber schämte er sich dieser Anwandlung. Er ging mit ruhiger Bedächtigkeit vorwärts. Nun gewahrte er deutlich eine dunkle Gestalt, die von dem jenseitigen Thor langsam näher kam, nachdem sie gleichfalls einen Augenblick lang gestutzt hatte. Der Mann trug einen schwarzen, faltigen Mantel, dessen schwere Kapuze ihm breit über die Stirn hing. Sein vierschrötiger Wuchs und der wiegende Gang dünkten dem jungen Arzte nicht unbekannt. Und wie dann Ambrosius den seltsamen Nachtwandler unmittelbar vor sich hatte, sah er zu seiner unbeschreiblichsten Aufregung, daß dieser mantelverhüllte Mensch kein anderer war als der entsetzliche Vorsitzer des Malefikantengerichts. – Der lustfrohe Lebenskünstler hatte im Grundviertel jenseit des Kirchhofs heimlich geabenteuert.

Balthasar Noß prallte jählings zurück, als packe ihn bei dieser einsamen Begegnung eine tödliche Angst. Das Gerücht hatte den jungen Mann längst als Hildegard Leutholds Herzallerliebsten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 557. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_557.jpg&oldid=- (Version vom 10.12.2016)