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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897)

Die Hexe von Glaustädt.
Roman von Ernst Eckstein.

(Schluß.)

29.

Doktor Ambrosius hatte noch mancherlei in der Stadt zu erledigen. Nachdem dies geschehen war, entließ er die sechs Begleiter, die ihm bis dahin vorsichtshalber gefolgt waren, und begab sich in seine Wohnung. Der Marktplatz wimmelte noch von Menschen, obgleich es schon dunkel war. Das aufregende Tagesereignis ward hier in allen Tonarten durchgesprochen.

Unerkannt und von keinem, weder im guten noch im bösen behelligt, erreichte Doktor Ambrosius das alte trauliche Haus, wo sich die ewig unvergeßliche Elma für ihn geopfert hatte. Rudloff, der Altgeselle empfing ihn mit eigentümlicher Schwermut. Der Zunftobermeister war noch nicht heimgekehrt. Doktor Ambrosius setzte sich eine Weile zu Rudloff und sprach lange mit ihm von der teuern Verklärten, ohne trotz all’ seiner Menschenkenntnis zu ahnen, was dieser schlichte, äußerlich ruhige Mann litt. Mit Elma Wedekind war für Rudloff alles gestorben, was er auf Gottes Welt lieb gehabt und in ehrfürchtiger Einfalt bewundert hatte. Die Tage gingen ihm jetzt dahin wie dem geblendeten Vogel im Käfig. Er hatte für nichts mehr Sinn und Teilnahme. Selbst der Sturz der Malefikantenrichter flößte ihm kein Interesse mehr ein. Was half ihm das noch?

Da es Zehn schlug, ohne daß der Zunftobermeister heimgekehrt wäre, ging Doktor Ambrosius schlafen. Morgen früh vor Beginn der Ratsversammlung fand sich so wohl noch Gelegenheit, dem schwergeprüften Vater des tapferen Kindes freundschaftlich eine Stunde zu widmen.

Die Nacht verging. Doktor Ambrosius erwachte erst gegen halb Sieben. Als er die Treppe hinunterstieg, ward ihm von der alten Magd, die seit dem Tod Elmas die Wirtschaft führte, umständlich mitgeteilt, Herr Karl Wedekind sei schon um Sechs in hochwichtiger Angelegenheit fortgegangen. „Zum neuen Herrn Bürgermeister, sollte sie sagen, falls Herr Doktor Ambrosius nach Herrn Wedekind fragen würde.

„Er kommt gar nimmer heim vor dem zweiten Frühstück,“ sagte das Weib. „Vom Herrn Weigel geht er dann gleich ins Rathaus.“

Doktor Ambrosius wußte noch nichts von dem Plane des Zunftobermeisters. Mit Woldemar Eimbeck, der ihn so zweifellos von der Sache in Kenntnis gesetzt haben würde, war er seit der gestrigen Ratssitzung nicht mehr zusammengetroffen. Der Zettel jedoch, der ihn zur heutigen Sitzung einlud, enthielt nur die kurze Bemerkung, auf der Tagesordnung stehe nebst anderen Punkten auch der Bericht Karl Wedekinds über die Maßnahmen, zu denen die Ratsversammlung ihn gestern bevollmächtigt habe.

Das neue Stadtoberhaupt war schon längst außer Bett, als Herr Wedekind bei ihm anpochte.

Rolf Weigel hatte um fünf Uhr auf eigene Faust einen reitenden Boten nach Lich gesandt – mit dem ehrfurchtsvollen Ersuchen an den durchlauchtigsten Landgrafen, keinerlei Feindseligkeiten gegen sein treues und gehorsames Glaustädt unternehmen zu wollen, bis man ihm die außergewöhnlichen Gründe zu dem gewaltsamen Vorgehen wider die Zwingherrschaft des Balthasar Noß klar und ausführlich dargethan hätte, was spätestens binnen vierundzwanzig Stunden geschehen solle. Man halte sich überzeugt, daß Seine Durchlaucht das scheinbar ungesetzliche Vorgehen der Bürgerschaft nachträglich in landesherrlichem Wohlwollen gutheißen werde. Glaustädt, obwohl einmütig in der Verwerfung des Malefikantengerichts, denke auch nicht von ferne daran, sich der Botmäßigkeit des allergnädigsten Landgrafen aufrührerisch entziehen zu wollen, wie dies vielleicht von den Anhängern des Balthasar Noß fälschlich behauptet werde.

Um dieser Zuschrift mehr Nachdruck und Wert zu verleihen, hatte Rolf Weigel den seines Amtes entkleideten früheren Bürgermeister Georg Kunhardt zur Mitunterzeichnung veranlaßt. Der weinfrohe alte Herr, der bei all seiner Schwäche ein ganz wackres, ehrliches Haus war und den Sturz des Balthasar Noß nicht ungern sah, hatte Selbstverleugnung genug besessen, dem Wunsch Rolf Weigels ritterlich zu entsprechen – was für die Sache der Aufständischen nicht ohne Belang schien, denn Georg Kunhardt war am Hofe zu Lich wohlangeschrieben.

Jetzt, als Wedekind bei ihm vorsprach, hatte Herr Weigel das alles schon glücklich hinter sich. Er saß im Lehnstuhl vor einem kalten Imbiß und gönnte sich einen herzhaften Schluck feurigen Portweins. Der Zunftobermeister teilte ihm alles, was er seit gestern abend erlebt und erreicht hatte, eingehend mit. Rolf Weigel zuckte ein paarmal die Achseln, als wollte er sagen. „Absolut korrekt ist ja die Sache nicht.“ Aber dann mußte er einräumen daß es Verhältnisse giebt, wo man fünf gerade sein läßt.

Nachdem auch Wedekind, der über das ganze noch jüngst so bleiche und vergrämte Gesicht vor wilder Genugthuung strahlte, ein paar Gläser von dem ausgezeichneten Südwein geleert hatte, machten die beiden Männer sich langsam und schweigend auf den Weg nach dem Rathaus.

Die monumentale Uhr über den altniederländischen Fresken der Rückwand wies ein Viertel auf Neun, als Rolf Weigel die Ratssitzung eröffnete. Zunächst wurden einige Mitteilungen des Hauptmanns Fridolin Geißmar über die Bürgerwehr und über die Schritte entgegengenommen, die er behufs einer ausgiebigen Verproviantierung der Stadt teils gethan hatte, teils noch beabsichtigte. Dann erzählte der Maler und Reißer Kunz Roll etliche Einzelheiten über die Befreiung der Inkulpaten und veranlaßte so die schnell und einstimmig gefaßten Beschlüsse zu ihren Gunsten.

Nachdem dies in kaum einer halben Stunde erledigt war, erhielt der Zunftobermeister Karl Wedekind das Wort zur Berichterstattung.

„Liebwerteste Mitbürger,“ begann er mit einer Stimme, der man die Aufregung anhörte. „Ich kann euch vermelden, daß der Plan, zu dem ihr mich vorgestern bevollmächtigt habt, über alles Erwarten geglückt ist!“ Er hielt inne, um Atem zu schöpfen. Durch die Versammlung ging ein Murmeln des Beifalls, der Neugier, des staunenden Zweifels.

„Hört nun zuvörderst, was ich gethan habe!“ fuhr Karl Wedekind fort. „Ich habe das Malefikantengericht, das ihr aufgelöst habt, wieder eingesetzt. Laßt mich nur erst ruhig zu Ende reden! Ihr sollt schon billigen, was euch jetzt überrascht! Den ehemaligen Beisitzer Wolfgang Holzheuer hab’ ich zum Vorsitzer gemacht. Gestern abend noch hab’ ich ihn aus dem Stockhaus geholt. Er traute zwar seinen Ohren nicht, aber als guter Jurist begriff er doch augenblicklich. Ja, und außerdem hab’ ich die drei bisherigen Schöffen antreten lassen. Macht vier. Ich selbst bin der fünfte gewesen. Und ich versichere euch, liebwerte Freunde, ich habe kein Blatt vor den Mund genommen. Zwölf Glaustädter Bürgersöhne mit Schießzeug und Messern hielten die Eingänge besetzt. In alter Form, wie’s die hochverordneten Malefikantenrichter gewöhnt sind, hab’ ich den schändlichen Balthasar Noß peinlich verhören lassen. Ich hab’ ihn von Amts wegen der höllischen Zauberei beschuldigt.

Karl Wedekind trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

„Weiter! Weiter!“ klang es im Chore.

Der Zunftobermeister rollte die Augen, als stünde er noch dem wüsten Zerstörer seines Familienglücks von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er hub mit laut schallender Stimme wiederum an: „‚Elender Schurke‘, hab’ ich ihm zugerufen, ‚willst du mir abstreiten, daß du mit Satanas zum Verderben der Unschuldigen einen himmelschreienden Pakt geschlossen? Daß du zahlreiche Opfer schuldlos gemordet hast?‘ – Auch sonst hab’ ich ihm dutzenderlei aufgeredet. Und wie hat sich der Bube angestellt! Von etlichen armen Weiblein wird uns berichtet, daß sie den Grausamkeiten der Folter bis zum letzten Augenblick tapfer standgehalten und lieber die Seele verhaucht als eine Schuld eingeräumt haben. Der elende Balthasar Noß hat alles gestanden, eh’ noch die Knechte ihr Werkzeug hervorholten! Hier, meine liebwerten Mitbürger, hab’ ich das Protokoll seines Geständnisses, von ihm selbst unterzeichnet und von sämtlichen Richtern. Mich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1897). Leipzig: Ernst Keil, 1897, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1897)_623.jpg&oldid=- (Version vom 2.10.2022)